Rainer Kolbe - Das Kind

 

179 Die Post ist da!

Von der Hauptstraße biegt das kleine gelbe Auto in unsere Gasse, hält erst beim Nachbarn rechts, hält dann bei der Nachbarin links und brummt schließlich die Warft zu unserem Haus hinauf.

Sitze ich am Schreibtisch, kann ich das Postauto schon sehen, wenn es von der Hauptstraße einbiegt. Bis es vor unserem Haus steht, kann ich bequem zur Türe gehen und dem Postboten auch gleich unsere Post mitgeben, das macht er gerne. Manchmal stürze ich auch zur Tür, um vor der Lieblingspastorin da zu sein, damit sie nicht erfährt, dass ich beim Online-Händler meines Vertrauens schon wieder etwas für mein Lieblingshobby bestellt habe. Geschweige denn, wie groß das Päckchen dieses Mal ist.

Auch der Ganzlütte wackelt auf seinen Beinchen von Tag zu Tag sicherer und schneller zur Tür – „Post!! Post!!“ – auch wenn er noch gar nicht weiß, was das bedeutet.

Das große Kind aber weiß das sehr wohl, aber es ist ja meistens in der Schule, wenn die Post kommt. Aber an Samstagen zum Beispiel, da springt auch das Kind freudig erregt zur Tür. Wenn wir dann die Post vom Postboten in Empfang nehme, dann guckt mich das Kind heischend und gespannt an – und wehe, es ist nichts dabei fürs Kind! Enttäuschung im Gesicht und eine lange Unterlippe.

Die Wechselwirkung zwischen Post bekommen einerseits und Post verschicken andererseits hat das Kind noch nicht vollständig durchschaut, und ich erkläre es ein weiteres Mal: dass man nur Post bekommt, wenn man auch Post verschickt. Das ist natürlich gelogen, man bekommt auch Post, wenn man eine Rechnung nicht bezahlt hat oder im Internet einkaufen war, aber das wird zu kompliziert, deshalb: Post gibt’s nur gegen Post.

Gleich springt das Kind in sein Zimmer hinauf und schreibt und malt einen Brief an die Oma und einen an die andere Oma und einen an die Patentante und einen an den Patenonkel. Die bringen wir dann gemeinsam zum Briefkasten und hören, wie die Werke mit sattem „Plopp!“ in die gelbe Kiste rumpeln. Leider wird der Kasten erst am Montag geleert, das heißt: kommt das Kind aus der Schule, ist die Post gerade erst weg. Das Kind kommt aber aus der Schule und will wissen, ob es Post bekommen hat. Und dann erkläre ich ein weiteres Mal, wie das geht mit den Postlaufzeiten und der Schneckenpost und den lahmen Erwachsenen, die es nicht schaffen, innerhalb von drei Stunden eine Antwort zu verfassen und so weiter.

Um die Wege, die die Post zurücklegen muss, etwas abzukürzen, hat das Kind sich jetzt einen eigenen Briefkasten gebastelt aus einem kleinen gelben Pappkarton. Dort hinein hat es einen breiten Einwurfschlitz geschnitten, eine Lasche ist zum Öffnen, ein blaues Posthorn prangt darauf und der Name des Kindes auch. Dieser Briefkasten steht vor der Kinderzimmertür, und da soll ich jetzt Post reinstecken, also, die von mir selbst verfasste.

Kommt das Kind aus der Schule, guckt es gleich in seinen Postkasten. Letzte Woche war einmal anderthalb Tage nix Frisches drin: Ganz lange Unterlippe. Resignation klingt durch: „Da kann ich den ja gleich wieder abbauen!!“ Immerhin ist das Kind auch zufrieden, wenn ich die Kinderseite der Tageszeitung vom Vortag in den Schlitz schiebe.

Am meisten auf den Postboten freut sich der Hund. Das geht so: Der Hund liegt in der Diele auf seiner müffigen Matte, dann hört er das Postauto, am Geräusch erkennt er es einwandfrei. Und veranstaltet hinter der geschlossenen Eingangstür ein großes Spektakel, denn er möchte raus – nichts und niemanden liebt er so sehr wie den Postbote. Der hat nämlich Hundekekse mit und stellt zugleich keine Anforderungen an die Intelligenz des Tieres – der Hund muss nur betteln.

Und das kann er gut.

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