Rainer Kolbe - Das Kind

 

181 Mein Kind stiehlt keine gebrauchten Schuhe

Es war die Rede von der Post, die die Post bringt, von Hermes, dem Götterboten, zuletzt auch von der Elternpost, also der Post, die FÜR Eltern bestimmt ist und dort keineswegs immer ankommt.

Es gibt noch ein weitere, sehr seltene und dafür um so spannendere Variante der Elternpost. Das ist die Post VON Eltern FÜR Eltern. Einen solchen Brief bekamen wir vorvergangenen Freitag. Das war just der Tag, an dem unser Kind beschloss, seine Inliner mit in die Schule zu nehmen, weil es doch nach der Schule direkt zur Lieblingsfreundin Nunu wollte. Ich hatte Bedenken: Was würde sein, wenn die geliebten und teuren Inliner in der Schulgarderobe herumstehen und jemand sich dächte, oha, die sehen aber cool aus, „wegfinden“ ist das Stichwort.

Nun, das Kind klopfte mich weich, die Inliner wurden nicht gestohlen, und am Abend fand ich in des Kindes Postmappe besagte seltene und spannende Elternpost: Da schrieb eine Mutter eine volle Seite Text und hat den Brief für alle Eltern kopiert und in der Schule jedem Kind in seine Postmappe legen lassen. Worum ging’s? In der Schule waren Schuhe abhanden gekommen.

Wie kann das sein? Ungefähr so: Wenn die Kinder morgens in der Schule ankommen, ziehen sie ihre schlammverkrusteten und zudem mit übel riechendem Stalldung (Landkinder!) verklebte Schuhe aus und ihre Schulhausschuhe an. Das hält die Schule sauber.

Und da stehen also die schmuddeligen Stalldungschuhe in Reih’ und Glied, und, klar, wenn besonders schön verschlammte oder besonders cool verkrustete Exemplare dabei sind, dann kann ein anderes Kind vielleicht mal auf die Idee kommen, sich diese Schuhe „auszuleihen“, auch wenn sie ihm selbst eher nicht gehören.

Du sollst nicht stehlen, das ist klar. Aber: Die Welt ist nicht perfekt, es soll vorkommen, dass in ihr eben doch gestohlen wird. Das ist ärgerlich, und wenn meinem Kind die Schuhe gestohlen würden, würde ich mich auch ärgern. Und bei der Schule nachfragen, ob das häufiger vorkomme und was man unternehmen können und was man seitens der Schule schon unternommen habe und was ich selbst tun könne. Aber ich würde mich sicher nicht entblöden, eine Seite Text zu verfassen, zu vervielfältigen und verteilen zu lassen!

Das Beste kommt, wie immer, zum Schluss. Am Ende eben jenes Briefes war ein Abschnitt, darauf sollte ich unterschreiben, dass ich mit meinem Kind über das Problem der gestohlenen Schuhe und über das Stehlen an sich ernsthaft gesprochen habe. Diesen Abschnitt sollte das Kind dann mitnehmen, auf dass die in der Schule gesammelten Abschnitte eben jener Mutter ausgehändigt werden.

Selbstverständlich habe ich nicht unterschrieben, ich bin doch nicht doof und bescheinige anderen Eltern, worüber ich mit meinem Kind rede oder gar zu reden haben! Bin ich anderen Eltern schriftlich Rechenschaft schuldig über den Inhalt unserer mittäglichen Tischgespräche? Ich denken: nö.

Nun steht mein Kind wahrscheinlich jetzt unter dem Verdacht, Schuhe gestohlen zu haben. Zumindest bei den Eltern des bestohlenen Kindes.

Doch mein Kind stiehlt keine gebrauchten Schuhe. Erstens: Du sollst nicht stehlen, das weiß das Kind einer Pastorin natürlich. Und zweitens bleibt der treueste aller Treuen seit kurzem zuhause am Fenster: Teddy. Denn das Kind hat Angst, dass Teddy gestohlen wird! Das ist praktisch ein Beweis: Wäre mein Kind ein Dieb, so wäre Teddy bei den Diebestouren natürlich immer dabei, zum Schmierestehen vielleicht.

Ich bin erleichtert. Weniger darüber, dass ich vor mir selbst beweisen konnte, dass mein Kind keine gebrauchten Schuhe stiehlt. Sondern vor allem wegen Teddy. Ich hatte immer große Angst, dass er in der Schule gestohlen wird.

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