Rainer Kolbe - Das Kind

 

181 Verbündete

Das Kind fällt hin, Tränen springen aus den blanken Augen, das Kind rappelt sich hoch und läuft auf die Mutter zu, nein, das Kind macht einen Bogen um die Mutter und läuft zum Vater. Der Vater ist glücklich und jubiliert innerlich: Väter sind eben doch die besseren Mütter! Das ist auch klar, denn das Kind und ich, wir sind ja Verbündete.

Meistens jedenfalls. Ränke werden geschmiedet und Koalitionen gebildet, gegen mich, gegen den kleinen Bruder, gegen die eigene Mutter, gegen den Rest der Welt. Die Koalitionen wechseln täglich, stündlich oder sogar mehrmals während eines Nachmittags oder einer Mahlzeit.

All das trainiert das Kind für den Schulhof und fürs Leben, auch wenn ich mitunter eher den Eindruck habe, das Kind trainiert auf dem Schulhof für die häusliche Tischgemeinschaft. „Halt, Papa, hier ist die Grenze!! Dies ist die Frauenseite!!“ Und zeigt eine imaginäre Linie quer durch das Mittagessen. Und der Ganzlütte echot lautstark „Halt, Papa!!“ Und hat wieder etwas Wichtiges gelernt: Halt, Papa!

Aber, wie gesagt, meistens sind das Kind und ich Verbündete. Das geschieht manchmal auch sehr heimlich und geht auf Kosten des kleinen Bruders, der Oma auf Besuch oder gar der eigenen Mutter.

Denn es soll ja vorkommen, dass der Ganzlütte ohne Ende nervt. Oder dass die Oma seltsames Zeug erzählt. Oder dass die Mutter sich über etwas ärgert, was andere am Tisch, sagen wir, eher ein wenig amüsiert. (Nebenbei: Ich hege keine Zweifel, dass das Ganze auch auf meine Kosten funktioniert, aber das ist ja hier nun wirklich gar nicht unser Thema...)

Und es ist überaus spannend zu sehen, wie das Kind herumprobiert an den Gesten, an der Mimik, an den Zeichen. Welche sind geheimnisvoll genug? Welche sind wirklich unsichtbar außer für den, der sie sehen soll? Welche sind opportun und welche gehen gar nicht?

Ein Blick, ein Atemzug, ein anfangs noch ungeübter Tritt unter dem Frühstückstisch, schmerzhaft gegen mein Schienbein, bis hin zu einem dezenten Antippen mit dem kleinen großen Zeh. Ein sanftes Anheben des linken Mundwinkels. Auch das will geübt werden, denn der rechte Mundwinkel ist der Mutter oder der Oma oder dem Rest der Welt zugewandt.

Nun gibt es natürlich Situationen, und in toto sind es sogar die meisten, in denen jedwede verständnissinnige Verbünderei völlig unangebracht ist. Auch das muss das Kind lernen, und ich muss lernen, in solchen Fällen völlig ernst zu bleiben, um kein Öl ins Feuer zu gießen. Nicht ganz einfach, das Ernstbleiben, denn alles ist ja zugleich auch ein köstliches Spiel.

Bei dem das Kind auch lernt, dass Spiegel tatsächlich spiegeln und jemand mithilfe des Spiegels am Kleiderschrank nach hinten gucken kann und dort sieht, was er nicht sehen soll. Und dass auch eine Fensterscheibe ausgezeichnete Spiegelbilder liefert, wenn der Raum dahinter dunkel ist. Und dass Spiegel umgekehrt sehr nützlich sein können, um verständnissinnige Blicke zu tauschen.

Beim Abendessen aber ist das Kind müde, so sehr müde. Der Tag war lang: Schule, Hausaufgaben, Flötenunterricht, Toben... Jetzt ein falsches Wort, und das Kind regt sich völlig unangebracht künstlich auf, meckert und mault. Jetzt die richtigen falschen Worte gewählt und schon wird es aufspringen und sich Türen knallend in sein Zimmer verziehen. Natürlich sage ich diese richtigen falschen Worte nicht, schließlich bin ich ja Verbündeter meines Kindes. Denken aber darf ich sie natürlich doch.

Da sehe ich, wie die Mutter des Kindes mich mild anlächelt, natürlich nur mit dem rechten Mundwinkel, der linke ist ja dem Kind zugewandt. Und unter dem Tisch streift mich ein großer großer Zeh.

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