Rainer Kolbe - Das Kind

 

186 Öffentliches Gucken

Selbstverständlich interessiert sich das Kind für Fußball. Muss es auch, denn es will ja mit Papa ins Stadion, HSV gegen St. Pauli. Das Kind kennt sich auch enorm aus mit Fußball, denn sonnabends betätige ich die Kurbel an unserem alten Fernseher, und dann kommt da die Sportschau heraus. Sonntags betätige ich die Kurbel erneut, das Kind sieht die Sendung mit der Maus, auch da kam neulich was über Fußball.

Nun ist aber sogar Fußballweltmeisterschaft, da muss das Kind ran. Allerorten kann man nun Fußballspiele in überdimensional sehen, auf einer Leinwand in der Landschaft. „Public Viewing“ nennt sich das, einen passenden deutschsprachigen Ausdruck gibt es dafür nicht. „Öffentliches Gucken“ – nun ja.

Das erste Spiel sehen das Kind und ich bei Freunden. Die haben den ehemaligen Stall ausgebaut, hier kann man Kickern oder Tischtennis spielen oder eben Fußball gucken in überdimensional. Das Kind bekommt von der Gastgeberin die deutschen Farben auf die Wangen gemalt, es werden Getränke gereicht. Das Kind konzentriert sich auf den Anstoß und die sich unmittelbar anschließenden Spielzüge. Dann wandert der Blick ein wenig nach links und rechts, wer noch so da ist, was es hier noch so zu entdecken gibt, auf der Leinwand treten die Männer immer noch gegen den Ball, wird denen das nicht langweilig? Dem Kind schon, fünf Minuten nach dem Anstoß ist es draußen und im Garten und auf der Rutsche. Später fragt es mich immerhin, wie das Spiel ausgegangen ist.

Die nächste Partie sehen wir in der Nachbargemeinde, auch dort wird öffentlich geguckt. In den kleinen Gemeindesaal sind gut fünfzig Leute gekommen, davon die Hälfte Kinder – das Spiel findet ja mittags statt, und nur die ganz Lütten machen einen Mittagsschlaf. Die Gemeinde hat vorgesorgt und offeriert den mittäglich hungrigen Mäulern Würstchen und Brötchen und Kuchen.

Fußball ohne Bier geht nicht, deshalb haben das Kind und ich ein Sixpack dabei. Während ich uns die ersten beiden Flaschen öffne, entdeckt das Kind Lotta, „Da ist ja auch Lotta – LOTTA!!“ Natürlich sitzt das Kind dann neben Lotta in der ersten Reihe. Und natürlich sitzen hinter dem Kind Menschen. Sogar Menschen, die hierher gekommen sind, um das Fußballspiel auf der großen Leinwand zu verfolgen. Das weiß das Kind ganz offenbar nicht. Da wird gescherzt und geplaudert und aufgesprungen und niedersetzt, dass es nur so eine Freude ist. Also eine Freude für das Kind.

Immerhin ist mein Kind nicht das einzige, das zwischendurch herumläuft, noch ein Würstchen holt, bei Papa auf dem Schoß ein wenig kuscheln möchte und beim Aufspringen eine auf dem Boden stehende halbvolle Flasche umwirft. Von vier Toren habe ich eines „live“ gesehen, bei den anderen war ich gerade mit dem Beantworten von Fragen beschäftigt, mit ermahnenden Blicken, mit Aufwischen von Malzbierlachen. Gott sei Dank gibt es die Zeitlupe!

Doch die Erwachsenen halten akustisch tapfer dagegen. Bei der roten Karte bleibt es noch relativ ruhig. Mag sein, dass es an der ungewohnten Mittagsstunde liegt. Beim null zu eins geht ein Stöhnen durch die erwachsenen Reihen, grobe Flüche oder gar französische Beleidigungen bleiben noch aus – sicher mit Rücksicht auf die anwesenden Kinder. Richtig laut aber wird es, als der Torhüter einen Strafstoß pariert – und da schreckt das Kind geradezu hoch und guckt mit großen Augen und staunt: erwachsene Menschen, die schreien und ächzen und schimpfen und jubeln. Ja, wo bin ich denn hier gelandet?

Irgendwann ist auch dieses Spiel vorbei, wir sind erleichtert: Das nächste Spiel ist wieder abends. Und da sind alle Kinder im Bett.

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