Rainer Kolbe - Das Kind

 

188 Sommerferien.

Sommerferien! Welch’ Klang! Vor allem, wenn es die ersten sind. Das Kind hat die weltersten Sommerferien seines Lebens! Jetzt, heute, beginnen sie! Es ist der letzte Schultag der ersten Klasse!

Auf der Rückfahrt von der Schule, also auf der Rückfahrt vom weltersten letzten Schultag vor den weltersten großen Ferien, befrage ich mein Kind: Wie geht’s? „Nana nanana, Ferienzeit!“, singt das Kind, laut jauchzend. „Nana nanana. Das ist die beste Zeit! Nana nanana. Nur Ferien weit und breit! Nana nanana. Lange schlafen und spät aufstehen und machen was gefällt, keine Hausaufgaben machen ist das Schönste auf der Welt! Ferienzeit! Nana nanana. Das ist die beste Zeit! Nana nanana.“

Und wie sehen siebenjährige Pläne für sechs Wochen aus? „Zur Patentante fahren, ganz allein mit dem Zug nach Berlin. Auf den Spielplatz gehen. Eis essen. Im Garten spielen. Mit Oma auf die Seekiste gehen. Viele Bücher lesen. Spät aufstehen. Eis essen. Abends lange aufbleiben, mindestens bis halb elf. Mit Papa Ticken spielen. Ins Kino gehen. Baden in der Nordsee. Ins Schwimmbad gehen. Eis essen. Auf Bäume klettert. Eis essen. Eine Radtour machen mit Übernachten und meinem neuen Fahrrad und meinen beiden Packtaschen. Eis essen. Inliner fahren. Mit Mama nähen. Viele Bilder malen. Freunde treffen. Ein Kinderfest im Garten. Eis essen. Am Computer spielen. Mit Wasser spielen. Erdbeeren pflücken auf dem Feld. Und alle aufessen! Und Eis essen!“

Wir beginnen die Sommerferien und räumen den Ranzen aus. Das klingt ein wenig sehr prosaisch, aber moderne Schulranzen sind unglaublich groß und tief, und ich weiß genau, dass gelegentlich ein von mir zwar äußerst liebevoll bestrichenes, vom Kind dann aber doch verschmähtes Leberwurstbrot in der Brotdose verbleibt. Was an sich ja nicht sooo schlimm ist. Doch ich möchte nicht in sechs Wochen am ersten Schultag nach den Ferien beim äußerst liebevollen Bestreichen eines frischen Pausenbrotes auf ein Leberwurstbrot aus dem alten Schuljahr stoßen. Immerhin sind unsere Brotdosen aus durchsichtigem Kunststoff, so dass man gegebenenfalls vorher sehen kann, ob man die Dose lieber draußen öffnen sollte...

Und da finden wir auch das Zeugnis! Während das lokale Blättchen heute in unüberlesbarer Dämlichkeit von „Giftblättern“ spricht, als seien seit Preußen nicht doch schon ein paar Jahre vergangen, verzweifeln wir Eltern an der Art des Zeugnisses: Drei Seiten Ankreuzbögen! Ja, ich weiß, das ist Standard, die Schule und die Lehrer haben keine Wahl, sie müssen Kreuzchen machen, auch wenn sie von ihren hinreißenden aufstrebenden Erstklässlern doch lieber berichten, erzählen, schwärmen würden. Nackte Kreuzchen, wo doch über wirklich jedes Kind ein Hymnus anzustimmen wäre!

So kann mein Kind sich über die vielen Kreuzchen in der Rubrik „Deutsch“ oder „Lernverhalten“ oder gar „Religion“ nicht so recht freuen, weil es sie nicht so recht versteht. Sehr stolz ist es aber auf den einen Satz in der Rubrik „Sonstiges“: „... hat die Frühstückssets immer sehr zuverlässig ausgeteilt.“ Aber ist das der Sinn von Zeugnissen?

Dann denke ich ein wenig nach und finde: Ja! Mein Kind hat voller Stolz die erste Klasse absolviert. Es hat noch so viel Zeit für all das Schöne unserer Welt wie für all das Schwierige unserer Welt. In diesem ersten Jahr hat es so viel gelernt, so viel erreicht, wer kann das verstehen und begreifen? Ich nicht, das Kind selbst nicht Wir werden es später erst begreifen können. Für’s Erste genügt es völlig: Das Kind hat die Frühstückssets immer sehr zuverlässig ausgeteilt.

Und ich bin sehr stolz auf mein Kind.

Im Grunde genommen hat das Kind im Laufe der Zeit einen neue Papa bekommen. Und ich ein neues Kind. Aber sind Kinder nicht sowieso jeden Tag und immer wieder neu?

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