Rainer Kolbe - Das Kind

 

190 Das blutrot-orange-farbene Fahrrad

Nun steht aber keineswegs nur das kleine Fahrrad vor dem Pastorat, sondern auch ein nagelneues, funkelndes, blutrot-orange-farbenes „Vierundzwanziger“ mit geflügelten Herzchen auf dem Rahmen. Und ein Vierundzwanziger ist ja nun wirklich das heiß ersehnte echte Fahrrad, es ist praktisch ein erwachsenes Fahrrad, jedenfalls keine olle Kleinkindgurke mehr.

Der Erwerb eines Vierundzwanzigers verläuft indes nicht immer unblutig: Wir besuchen das Fahrradfachgeschäft am Deich, und während die Lieblingspastorin mit dem Kind sich vom Fahrradfachhändler die Vorzüge dieser oder jener Gangschaltung erläutern und aus dem Katalog vom Kind ein blutrot-orange-farbenes Rad mit geflügelten Herzchen wählen lässt (Lieferzeit zwei Wochen), stiefelte der Ganzlütte vor dem Fahrradfachgeschäft hin und her, betrachtete dieses und jenes und fällt nach Art der kleinen Kinder auch mal hin. Was nicht weiter unüblich gewesen wäre, wenn nicht genau an diesem Ort ein Fahrradfachständer gestanden hätte, was vor einem Fahrradfachgeschäft allerdings auch nicht weiter unüblich ist.

Die Oberlippe aber klaffte erheblich und blutete auch, der Fahrradfachhändler erbleichte und schien ein wenig überfordert mit einer Familie, die das gesamte Spektrum von lächelndem Kind beim Fahrradkauf bis blutendem Kind beim Brüllen bot.

Wir kauften Eis: um die Bestellung eines Vierundzwanzigers zu feiern und um die Oberlippe zu kühlen und um alle Gemüter zu beruhigen. Dann sind wir alle miteinander zum Kinderarzt gefahren, aber in medizinischen Notfällen ist ja entweder Wochenende oder beim Arzt hängt ein Schild „Wir machen Ferien!“ Der Ersatzarzt hatte ein Wartezimmer von bis zu einer Stunde, weshalb wir erstmal Eis essen gegangen sind. Immerhin blutete die Oberlippe mittlerweile nicht mehr, und mir schien, als ob beide Kinder die Vorzüge mittelschwerer Verletzungen – also die unermüdliche Zufuhr von Gefrorenem – durchaus zu schätzen wussten.

Der Ersatzarzt besah die klaffende Oberlippe, erbleichte und meinte, dass eine solche weit klaffende Kinderoberlippe unbedingt genäht werden müsse, allerdings könne er das nicht, dazu müssten wir ins Krankenhaus fahren. Haben wir dann natürlich gemacht, wir hatten bestimmt nichts anderes mehr vor an diesem Tag, das Krankenhaus ist ja auch nur eine knappe dreiviertel Stunde Autofahrt entfernt. Der dort diensthabende Kinderarzt erläuterte ohne jede Scham, dass eine solche nur gering klaffende Kinderoberlippe sicher nicht genäht werden müsse, wir sollten nur heiße Getränke und Speisen vermeiden. Das beherzigten wir und kauften Eis.

Und schon vierzehn Tagen später rief der Fahrradfachhändler an, es gäbe Lieferschwierigkeiten, und das gewählte Vierundzwanziger sei noch nicht da und käme wohl erst in geschätzt zehn Tagen, aber er habe ein weißes Fahrrad da, ob wir vielleicht...

Doch das guckten wir uns lieber gar nicht erst an. Das sehnsuchtende Kind wollte SO SEHR und UNBEDINGT und JETZT ein neues Fahrrad haben, dass es auch eines genommen hätte in braun oder mit Piratenflaggen drauf. Es kostete uns erhebliche Mühe, dem Kind so etwas Unkindliches wie Geduld schmackhaft zu machen. Doch die zehn Tage gingen auch vorbei, und dann dauerte es tatsächlich nur noch eine weitere Woche, bis das Vierundzwanziger endlich in Empfang genommen werden konnte!

Die Geduld hat sich gelohnt! Denn ein Vierundzwanziger ist ein Fahrrad, dass die Freundinnen erblassen lässt vor Neid: So groß! So erwachsen! So dynamisch! Mit Gangschaltung! In Blutrot-Orange! Mit geflügelten Herzchen!

Aber dann haben wir unseren ersten Ausflug gemacht – mit gut verheilter Oberlippe und dem neuen Vierundzwanziger...

laden
start