Rainer Kolbe - Das Kind

 

191 Ein jeder in seinem Tempo

Allerdings ist ein nigelnagelneues blutrot-orange-farbenes Vierundzwanziger auch ein Fahrrad, das das Kind selbst fahren MUSS. Meint: Ob es will oder nicht, ob es müde ist oder nicht – es muss selbst fahren.

Bisher war es ja mit der ollen Kleinkindgurke unterwegs, und die konnte ich mittels einer Abschleppstange an meinem Rad befestigen, worauf das Vorderrad der Gurke angehoben wurde. Das Hinterrad blieb am Boden, das Kind konnte also mittreten oder es sein lassen (bergan allerdings musste es mittreten, ob es wollte oder nicht...). Von der Seite sah die Kombination ein wenig seltsam aus, und in einer eher ländlichen Regionen Schwedens erregten wir im letzten Urlaub einige Aufmerksamkeit. Aber die Abschleppmöglichkeit tat ihre Schuldigkeit: Es gab auf längeren Radtouren nicht nur kein Genörgel mehr, es gab überhaupt erstmals wieder längere Radtouren. Und es machte dem Kind Spaß, denn es musste sich nur abschleppen lassen, wenn es müde wurde, und im Takt meiner Pedale rufen: „Schneller, Papa!! Schneller!!“ Jetzt aber muss das Kind SELBST schneller fahren, wenn es schneller sein will.

Das Kind äußert nun die Sorge, ob es den auf es zukommenden Herausforderungen gewachsen sein wird. Es sieht, dass es doch etwas kleiner ist als wir Erwachsenen und dass ein Vierundzwanziger auch etwas kleiner ist als die beiden Achtundzwanziger der Eltern. Wir zerstreuen die Sorge und beruhigen das Kind: „Ein jeder in seinem Tempo!“ Und erläutern, dass der Langsamste das Tempo aller bestimmt.

Für diesen Sommer hatten wir ohnehin einige eher längere Radtouren geplant und uns darum einen Fahrradträger für das Auto zugelegt. Denn wenn man bei uns die Warft runterfährt und dann Richtung Westen oder Süden oder Norden – landet man ja unweigerlich nach einigen Kilometern am Deich und am Meer. Doch mitunter will man anderes sehen von der Welt als nur Deiche, Zwischendeiche, Schafe zwischen den Deichen und den ewigen Ozean. Fährt man aber Richtung Osten, so kommt da eine Kleinststadt, die man schon kennt. Und da will man auch nicht immer landen, wenn man einen halben Tag Radgefahren ist.

Am nächsten freien Tag der Lieblingspastorin verladen wir also die Räder aufs Auto. Schnell holt auch der Ganzlütte sein rotes Laufrad: „Rauflad!! Rauflad!!“ Nee, mein Lieber, das binde ich mir jetzt nicht ans Bein, wir nehmen den blauen Fahrradsitz mit.

Wir fahren an den Schafen vorbei, durch die Stöpe im Zwischendeich, am Hauptdeich entlang, vorbei auch an der Kleinstadt, die man schon kennt, und schließlich „auf die Geest“. Für ein siebenjähriges Kind, das zwischen Deich und Zwischendeich aufgewachsen ist, ist der Geestrücken eine Entdeckung an sich und eine Bedrohung sondergleichen: „Das sind ja hohe Berge hier!!“

Irgendwo auf einem schattigen Parkplatz laden wir die Räder ab, stärken uns mit einem Picknick und radeln los. Vorsichtshalber murmelt das Kind schon mal „jeder in seinem Tempo!!“ Der Weg führt hügelauf, hügelab, es gibt einen schönen Blick in eine Niederung, wir durchfahren einen kleinen Wald und kommen an eine sommerliche Badestelle am mäandernden Flusslauf, wir baden. Kurz: Es gefällt uns gut.

Wir wären an diesem Tag gerne etwas weiter gekommen, aber „jeder in seinem Tempo“, also im Tempo des Kindes. Hügelan ist das ungefähr so schnell wie Schieben. Aber das Kind ist ein Kind und muss sich an das neue Rad gewöhnen und an die hohen Berge und vor allem an den Gedanken, dass es ein großes Kind ist und nimmermehr abgeschleppt werden wird.

Immerhin fast zwölf Kilometer mit einer langen und ungefähr zweiundzwanzig kurzen Pausen hält das Kind durch. Wir werden weiter üben müssen, das Ziel bleibt ja eine eher längere Radtour...

Ein jeder in seinem Tempo!

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