Rainer Kolbe - Das Kind

 

192 Zwei Raupen im Garten

Die Mittagspause verbringt das Kind unter der Linde. Hier baut es sich ein Zelt aus Zweigen und einer alten Decke, hier singt es Lieder und träumt in den Himmel, hier streichelt es den Hund und schickt ihn wieder weg, wenn er der Keksdose zu nahe kommt. Hier findet das Kind auch zwei Raupen. Schöne Exemplare, dick und reizvoll gemustert, kriechlebendig und ein wenig stachelig.

Dem Kind war eine gewisse Nähe zur Natur immer schon eigen, es ist gerne draußen und kann auch im Regen tanzen. Zwar hört das Kind herzlich weg, als ich ihm den Unterschied erläutere zwischen Blaumeise und Kohlmeise, zwischen Rauchschwalbe und Mehlschwalbe. Doch es rettet den Frosch, der im vom Regenwasser halb gefüllten Eimer herumpaddelt und nicht herauskann.

Spinnen mag das Kind nicht. Und Nachtfalter sind ihm ein Graus, wenn sie durch das abendliche Kinderzimmer flattern, weil mal wieder das Fenster sperrangelweit offen stand, während das Kind sich die Zähne putzte. Ich darf die Falter dann einsammeln und aus dem Fenster in die Nacht werfen, in der die Fledermäuse jagen. Nach einer Stunde kommt das Kind schlaftrunken die Treppe herab, „da ist noch einer“ murmelt es, und den werfe ich dann auch noch raus.

Tagfalter aber mag das Kind sehr gerne. Tagfalter sind eines der bevorzugten Motive bei Ausmalbildern, werden mit Fenstermalfarben auf die Kinderzimmerfenster gemalt und als Kinder-Tattoo auf dem Unterarm geklebt. Und das Kind ist beglückt, wenn sich im Garten einer der bunten Gaukler zufälligerweise auf seinen Arm setzt.

Und nun also diese zwei Raupen. Das Kind lässt sie über seine Arme kriechen und bis zu den Fingerspitzen. Es stupft sie, dass sie die Richtung wechseln. Das Kind holt einen alten Blumentopf, legt ihn mit frisch gepflückten Lindenblättern aus, setzt die Raupen hinein. Das Kind beobachtet, wie die Raupen zwischen den Blättern herumkriechen, mal verschwinden, mal wieder auftauchen. So geht das, Tage.

Für die Nacht gibt es dann zwei alte Gurkengläser mit Löchern im Deckel. Die werden befüllt mit zart befeuchteten Lindenblättern. Warum die Raupen von nun an nachts getrennt schlafen müssen und morgens wieder in einen gemeinsamen Eimer gesetzt werden, erschließt sich mir nicht.

Ich teste das biologische Grundwissen unseres aufgeklärten Kindes: „Was ist, wenn die sich jetzt paaren und du nächste Woche zwei Dutzend Raupen hast? Denk an deine Meerschweinchen und ihre Jungen!“ Doch darauf fällt das Kind nicht herein.

Die linke der beiden heißt „Raupi“. Da sie nicht zu unterscheiden sind, heißt immer die gerade links sitzende Raupi. Wer Raupi ist, kann sich also binnen Minuten ändern, je nachdem, wer von beiden gerade die Nase vorn hat beim Unterarmwettrennen.

Tja, und dann kam es, wie es kommen musste. Die eine Raupe ermattete zusehends, wurde schwach und krümmte sich auch ein wenig. Zu viel Lindenblätter? Zu wenig? Immerhin kam keiner auf die Idee, den Tierarzt zu konsultieren; das Kind war einsichtig und setzte die Raupe in den Garten, natürlich unter die Linde, verbunden mit den besten Genesungswünschen.

Die andere floh. Also, das Kind tanzte mit ihr auf dem Arm ein wenig durch den Garten, da strauchelte die Raupe und fiel. Da Raupen weder fliegen noch springen können, konnte sie eigentlich nur direkt unter dem Arm sein. Doch das Kind lief erstmal zu mir und klagte und weinte und konnte sich später, nachdem ich endlich begriffen hatten, worum es wirklich ging, nicht mehr so ganz genau erinnern, wo diese Stelle war. War ja auch schon drei Minuten her. Und fand die Raupe nicht.

Irgendwann ließ die Trauer nach. Wir haben dann noch in einem Buch nachgesehen: Es waren die Raupen von Nachtfaltern.

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