Rainer Kolbe - Das Kind

 

193 Nur gespielt

 

Klare Luft. Sie radeln durch den Nachmittag, abseits der Straßen, es ist ruhig, es soll ruhig sein. Sie haben heute Zeit, Zeit für sich. Sie betrachten die Landschaft beim Radeln. Sie grüßen die Menschen, die Ihnen entgegenkommen, das tun Sie sonst eigentlich nicht so gern.

Irgendwo sehen Sie im Vorbeifahren etwas Rotes, hören Kinderlachen. Sie fahren langsamer, bleiben stehen. Ein Haus, ein Garten, ein Kind. Das Kind spielt, es erinnert Sie an etwas. Sie steigen vom Rad, trinken einen Schluck aus Ihrer Wasserflasche, beobachten das spielende Kind. Selbstverständlich fallen Sie bald auf, sind zuerst verdächtig. Ein Vater nähert sich. Sie kommen ins Gespräch, unterhalten sich lange – über Landschaften, Kinder, Zeit.

 

***

 

Das Kind findet eine tote Hummel vor der Haustür. Vielleicht hat sie Ungenießbares genossen, vielleicht ist sie allzu heftig gegen die Fensterscheibe gedonnert. Vielleicht auch war sie einfach alt, am Ende des ihr zugedachten Lebens angelangt.

Das Kind beschließt bei sich: Die tote Hummel soll beerdigt werden. Das Kind nimmt sie vorsichtig auf und legt sie in die hohle Hand. Das Kind geht mit der toten Hummel in der Hand durch den Garten und findet einen passenden Platz, hinten, neben den Brombeerbüschen.

Das Kind sucht einen Stein, es findet einen.

Das Kind kann noch nicht so gut schreiben, die Mutter muss den Stein beschriften mit wasserfestem Stift. Das Kind denkt lange und laut, hin und her. Schließlich diktiert es der Mutter den endgültigen Text: „Liebe Hummel! Ich hoffe, dass du weiterlebst. Schönen Gruß von mir! Du wurdest im Frühling beerdigt und ich hoffe, dass es dir bei Gott gefällt!“

Das Kind geht ins Haus, die Treppe hinauf, in sein Zimmer, die tote Hummel in der hohlen Hand. Nach einiger Zeit kommt das Kind mit einer kleinen Pappschachtel wieder in den Garten. Das Kind setzt sich auf die Treppenstufe vor der Eingangstür und legt die tote Hummel vorsichtig neben sich. Das Kind zieht eine Papiertaschentuch aus der Jackentasche, die Pappschachtel wird damit ausgepolstert. Das Kind denkt nach.

Das Kind steht auf, geht wieder ins Haus, die Treppe hinauf, in sein Zimmer, die tote Hummel in der hohlen Hand. Nach einiger Zeit kommt das Kind wieder heraus, mit Stiften in der Hand. Es setzt sich wieder auf die Treppenstufe vor der Eingangstür und legt die tote Hummel vorsichtig neben sich ab. Es bemalt die Schachtel mit ruhigen Farben.

Das Kind nimmt die tote Hummel auf, legt sie vorsichtig in die Schachtel, verschließt die Schachtel. Das Kind geht mit ruhigen Schritten in den Garten zum vorgesehenen Platz bei den Brombeerbüschen, in der einen Hand die Schachtel, in der anderen den Stein.

Das Kind holt eine Schaufel mit blauem Griff aus seiner Sandkistel, befreit die Stelle vom Bewuchs, die Erde liegt bloß. Das Kind gräbt ein Loch in den Boden, die Schachtel ist groß, der Boden fest.

Irgendwann passt die Schachtel in das Loch. Feierlich wird sie in den Boden gelassen, das Kind singt ein Lied für die Hummel, für sich, fast unhörbar. Dann nimmt es die Schaufel und schaufelt das Loch zu.

Das Kind wandert durch den Garten und sammelt kleine Zweige und Blumen, arrangiert sie auf der bloßen Erde. Auch der Stein wird jetzt gesetzt. Das Kind verharrt und betrachtet sein Werk.

Das Kind hüpft durch den Garten, leise jubelnd.

Das Kind ist jetzt müde, die Strahlen der Sonne fällen schräg, das Kind geht ins Haus.

 

***

 

Das Kind geht ins Haus, Sie aber radeln zurück. Sehr weit sind Sie heute nicht gekommen. Viel Zeit haben Sie zugebracht mit Beobachten, mit Nachdenken. Was hätten Sie an diesem Nachmittag alles machen können?!

Das Kind hat ja nur gespielt.

 

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