Rainer Kolbe - Das Kind

 

194 Endlich: Die Rutsche

Das Wohnzimmer steht voller Pappkartons, Teppiche werden aufgerollt, Bücher werden gestapelt, Regale werden zerlegt, dazwischen wuseln ein engagiertes Kind, ein begeisterter Ganzlütter und ein irritierter Hund: Wir ziehen um. So ein Umzug ist für alle natürlich eine sehr aufregende Sache: Neue Gemeinde, neue Kirche, neues Pastorat. Und viele neue Gesichter. Wie aufregend muss all das erst für ein sieben Jahre altes Kind sein!

Und natürlich waren wir in nicht geringer Sorge: Wie wird’s das Kind aufnehmen? Wird es weinen? Wird es sich fürchten vor der Fremde, in den Nächten schlecht schlafen? Gerade die erste Klasse der Grundschule absolviert, schon wieder die nächsten Änderungen, und die gleich bündelweise: Schulwechsel, Freunde, Sportverein. Gemeinde, Kirche, Pastorat. Menschen.

Wir haben es dem Kind sehr behutsam beigebracht. Das Kind hat uns mit großen Augen angesehen und zwei Fragen gestellt. Erste Frage: „Bekomme ich dann ein Zimmer, das so groß ist, dass die Rutsche endlich an mein Hochbett passt??“ Zweite Frage: „Muss ich etwa zu Fuß zur Schule gehen??“ Ansonsten große Freude beim Kind und nicht geringe Erleichterung bei uns.

Nun geht es dem Kind natürlich so wie uns auch: Freude und Neugier, Abschied und ein wenig Wehmut gehen dieser Tage Hand in Hand. Das Kind muss seine Freundinnen lassen – und freut sich doch auf neue Freundinnen. Es muss vertraute Wege lassen – und freut sich doch auf die Entdeckung neuer Wege. Welch Zugewandtheit den Dingen, die auf das Kind und uns alle zukommen, welch Neugier! Wir hatten es uns schlimm vorgestellt, und siehe da: ist es gar nicht!

Wir dürfen unser neues, zukünftiges Heim besichtigen. Erkunden alle Räume und den Dachboden, steigen in den Keller hinab. Wir gehen mit dem Zollstock auf und ab und messen hier und da. Die Kinder rennen durchs ganze Haus und machen einen Riesenkrach in der Leere. Dann erkundet der Ganzlütte sämtliche Abseiten. Wenn der sich verstecken will, werde ich lange suchen können... Das große Kind darf sich sein neues Zimmer selbst aussuchen, na ja, mehr oder weniger selbst. Erste Antwort zur ersten Frage: Ja, das Zimmer ist so groß, dass die Rutsche endlich ans Hochbett passt. Und der Maler streicht die eine Wand noch in knallgelb.

Dann wird ein erster Besuch in der Schule absolviert: Zum gegenseitigen Besichtigen. Fest an Papas Hand, aber eben auch sehr neugierig lässt sich das Kind alles zeigen. Dann spazieren wir zurück, von unserer zukünftigen Schule zu unserem zukünftigen Heim, einmal durchs ganze Dorf: Fast zehn Minuten. Und da ist sie wieder, die zweite Frage: „Muss ich etwa zu Fuß zur Schule gehen?? Durchs ganze Dorf??“ Ja, mein Schatz, du musst zu Fuß zur Schule gehen.

Das Kind ist ein wenig faul geworden. Da hatte man im letzten Jahr eine pädagogisch wertvolle Schule gewählt mit vielen Vorteilen und dem einen Nachteil, dass sie nur mit dem Auto erreichbar ist. Zieht man dann aber um, muss man dem armen Kind zumuten, tatsächlich zu Fuß zur neuen Schule zu gehen. Durchs ganze Dorf! Fast zehn Minuten!

Mich aber freut’s: Das Auto kann stehen bleiben. Schule, Einkaufen, Kindergarten – alles zu Fuß erreichbar. Auch die graue Stadt am grauen Meer ist viel näher. Dahin fahren wir dann aber doch wieder mit dem Auto, denn das Dorf hat keinen Bahnhof. Das Kind ist konsterniert: „Es gibt hier keinen Bahnhof??“ Auch eine Erkenntnis, wenn man fünf Jahre lang von morgens bis abends das Pfeifen des kleinen Zuges am Bahnübergang im Ohr hatte: Es gibt Dörfer ohne Bahnhof!

Aber, immerhin, mit Rutsche!

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