Rainer Kolbe - Das Kind

 

195 Wir Neuen

Das Wohnzimmer steht voller Pappkartons, Teppiche liegen aufgerollt, Regale sind zerlegt, dazwischen wuseln ein engagiertes Kind, ein begeisterter Ganzlütter und ein irritierter Hund: Wir sind umgezogen. So ein Umzug ist für alle natürlich eine sehr aufregende Sache: Den einen Tag kam ein großer Lastwagen mit fünf kräftigen Männern zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Siebzig (kein Scherz!) und haben sämtliche Kartons und Regalbretter und Schränke und Tüten und Ställe und Kinderfahrzeuge mit Müh und Not im Lastwagen verstaut. Dann verschwanden sie mit all unserem Hab und Gut am Horizont.

Wir fuhren in unser neues Pastorat und nächtigten auf dünnen Matten in leeren Räumen, hoffend und auch bangend zugleich, dass das ganze Hab und Gut am nächsten Morgen wieder am Horizont auftauchen würde.

Es tauchte, der Lastwagen wurde entladen und das Pastorat mit Kartons und Schränke und Ställen annähernd unbewohnbar gemacht. Sämtliche Regalbretter wurden an die Wand gestellt, an der ich mit dem Regalbau beginnen wollte, die Kiste mit der Aufschrift „Wichtig! Kiste Nummer 1“ fanden wir Tage später ganz hinten unten links, und eine Teekanne ging zu Bruch – kurz: alles hat geklappt.

Die Begrüßung in der Gemeinde war überaus herzlich, die Versorgung für den ersten Abend und den ersten Morgen nahrhaft, und auch die schlimmste Befürchtung des Kindes hat sich bewahrheitet: Es muss zu Fuß zur Schule.

Das hat es dann sogar zwei Tage lang ganz freiwillig gemacht. Das Kind wäre aber nicht das Kind, hätte es am dritten Tag nicht sein Fahrrad ins Spiel gebracht. Kinder ab der zweiten Klasse dürfen mit dem Fahrrad zur Schule fahren, wie das Kind wohl weiß. Die Gefahren des Straßenverkehrs auf dem Dorf – trotz Querung der Hauptstraße und schwerem Ernteverkehr – sind sicher nicht zu vernachlässigen, aber zu meistern, verglichen mit den Herausforderungen, die eine Großstadt an ein kleines Schulkind stellt. Also darf das Kind. Ich erläutere die Rechts-vor-links-Regel und warum es sinnvoll ist, auf der Straße rechts zu fahren. Das Kind hört zu, radelt los, ich radel hinterher. An der ersten Kreuzung muss ich ein bisschen laut werden, aber sonst geht es schon ganz gut.

Passenderweise hat das Kind von der Patentante zum Umzug und Einzug ein Verkehrszeichenmemory geschenkt bekommen, so dass wir beim abendlichen Spiel ein paar Verkehrsregeln lernen, die das Kind am nächsten Morgen auf dem Schulweg bestimmt noch weiß. Sicherheitshalber fahre ich aber in der kommenden Woche noch mit.

Dann wird der Fernseher eingestöpselt, es gibt hier Satelliten-Fernsehen, das kannten wir bisher gar nicht. Bisher wohnten wir unter Reet und baumumstanden, dem Reet war die Schüssel verboten, und im Garten war sie wegen der Bäume völlig zwecklos. Hier klemmt sie unter dem First und liefert uns ungefähr dreihundertundzweiundneunzig Fernsehprogramme. Nach einer guten halben Stunde Herumprobiererei und Herumstöpselei haben wir die beiden wichtigsten Programme in der kleine Glotze eingefangen, das Erste (Sportschau) und den KiKa (Sendung mit der Maus). Die restlichen dreihundertundneunzig Programme werden wir erforschen, wenn wir mal gaaanz viel Zeit haben.

Und natürlich erkunden wir die Kirche. Der Ganzlütte konstatiert verstört, dass die Kirchenbänke keine Türchen haben, die er während des Gottesdienstes in einer Tour auf- und zuklappen kann. Aber er ist ja praktisch veranlagt: „Kaputt!! Sind Werkstatt!! Sind reparieren!!“ Und das Kind entdeckt natürlich auch umgehend den hinter einem Vorhang verborgenen „Geheim“-Gang hinauf zur Orgel.

Wir freuen uns alle auf den ersten Gottesdienst in unserer neuen Kirche!

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