Rainer Kolbe - Das Kind

 

196 Die Wanne des Grauens

Als geduldige Leserin, als geduldiger Leser dieser Kolumne erinnern Sie sich vielleicht an die Folge „Reste aus dem Baumarkt“. Darin war beschrieben, wie das Kind vor dem Haus sitzt und arbeitet, neben sich den kleinen Werkzeugkasten mit Schrauben und Nägeln, Hammer und Zange. Das Kind verarbeitete damit tagelang diverse Holzreste zu einem Außengehege für seine Spielzeugtiere. Und zu einem Bilderrahmen. Und zu einer Wippe für die Puppen. Und zu einem Kunstwerk. Und ...

Der Materialbedarf des Kindes wurde im Baumarkt der nächsten Kleinstadt befriedigt. Oder vielmehr im dortigen Hinterhof, in dem das Kind den Restecontainer durchwühlte, damit die Arbeiten auch in den nächsten Tagen weitergehen konnten.

Am Abend eines jeden Werktages wurde der Werkzeugkasten in einer großen, grauen und unansehnlichen Kunststoffwanne versenkt, in der auch alle erst teilweise verarbeiteten oder auch noch gar nicht verarbeiteten Leisten und Bretter, Reste und Splitter verschwanden: Durch die Bank unansehnliche Teile – das meisten stammte ja aus dem Restecontainer des Baumarktes – die zudem aus dieser Wanne in alle Richtungen gefährlich hervorstakten. Eigentlich ein Fall für den Restecontainer ...

Irgendwann ebbte die Begeisterung des Kindes für Werkzeuge und Holzreste etwas ab, andere Dinge wurden wichtiger, und die „Wanne des Grauens“, wie ich sie insgeheim nannte, verschwand auf dem Speicher und geriet dort in Vergessenheit.

Bis die Möbelleute anrückten, um unseren Haushalt in ein anderes Pastorat zu verpflanzen. Da stand diese Wanne in einer Ecke des Speichers. Innerlich leicht errötend fragte ich mich, warum um alles in der Welt dieses Teil jetzt mit umziehen musste? Warum ich es nicht längst klammheimlich entsorgt hatte?

Nun sind Möbelpacker ja eher stoisch und haben schon einiges gesehen in ihrem Berufsleben, aber die graue Wanne war tatsächlich speziell. Auch unterschied sich ihr Inhalt nicht wesentlich von einigen kaputten oder unansehnlichen Teilen unseres Hausstandes, die wir in der anderen Ecke unseres Speichers zur Entsorgung gestapelt hatten.

„Diese Wanne da – soll die mit??“, fragte also der Anführer der Truppe mit gleich mehreren Untertönen, ich hüstelte künstlich und konterte mit der Frage „Haben Sie Kinder?“. Die Väter unter den Packern lächelten milde.

Die Wanne kam also mit. Die Packer hatten einige Mühe mit dem unhandlichen Ding, aus dem Leisten und Bretter, Reste und Splitter in alle Richtungen gefährlich hervorstaken. Und als sie am neuen Ort aus dem Möbelwagen wieder auftauchte, stellten die wackeren Männer sie erstmal im Vorgarten ab. Dort sah sie ein bisschen peinlich aus.

Doch das blieb sie nicht sehr lange. Dann hatte einer der Packer nämlich eine Idee: Vor dem neuen Pastorat befindet sich eine Stufe, für ein Rollwägelchen mit fünf schweren Bücherkartons ein unüberwindliches Hindernis. Die kleine Rampe, die die Packer zur Hand hatten, passte nicht zur Stufe. Also jede Kiste einzeln ins Haus schleppen ... aber da stand ja noch die Wanne des Grauens. Mit einiger Phantasie bastelten die Packer aus den Leisten und Brettern, Resten und Splittern sowie einigen Metern Klebeband eine Art Instant-Rampe für ihre Rollwägelchen – und konnten so die schweren Kisten im Fünferpack ins Haus rollen!

In den Tagen nach dem Umzug kam es dann vor, dass ich beim Auspacken unseres Hab und Guts das eine oder andere Ding in der Hand wendete und mich fragte, warum um alles in der Welt dieses Teil jetzt mit umziehen musste? Warum es nicht gleich entsorgt worden war?

Da kommt das Kind an und ruft begeistert „Papa, das können wir noch gebrauchen!!“ Nach der jüngsten Erfahrung mit der Wanne des Grauens denke ich: Das Kind hat recht!

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