Rainer Kolbe - Das Kind

 

197 Phasen

Das Kind hat, wie jedes andere Kind auch, Phasen. Nun haben wir ja alle Phasen, also Zeiten, in denen wir eine Angewohnheit oder Vorliebe besonders pflegen oder ausleben – manchmal erfreut das unsere Lieben und andere Mitmenschen, manchmal nervt es sie von morgens bis abends.

Das Kind pfeift: Lieder, Tonfolgen, Kadenzen, Rhythmen, Dissonanzen, Melodien. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang: Pfeifend kommt das Kind die Treppe herunter, um sich gut gelaunt an den Frühstückstisch zu setzen. Es pfeift beim Zusammenkramsen seiner Schulsachen, und es verlässt pfeifend das Haus, den Ranzen auf dem Rücken.

Ein leichtes Pfeifen im Ohr habe ich ohnehin schon. Auch trage ich Hörgeräte und kenne das Pfeifen der Rückkopplung, wenn sich jemand von hinten angeschlichen hat und mir gehässigerweise die Ohren zuhält. Doch gegen das Pfeifen des Kindes ist das alles nichts.

Das Kind kommt von der Schule nach Hause und zur Tür herein, kein „Hallo!!“, kein „Wie geht’s??“, das Kind pfeift. Das Kind geht auf Klo, fällt über den Hund, der Hund jault, das Kind pfeift. Ich versuche ein Gespräch, „Sag mal, mein Schatz, hast du vielleicht Lust, heute Nachmittag mit dem Rad zu fahren?“, das Kind pfeift.

Nun ist ein pfeifendes fröhliches Kind natürlich eine wunderbare Sache, doch mitunter ist das Drumherum ums Kind nicht ganz so fröhlich, und da passt es dann einfach nicht. Scheint mir. Ich quäle mich auf einer wackeligen Leiter in luftiger Höhe mit einer widerspenstigen Deckenlampe ab, eine Befestigungsschraube fällt herab, der Schraubenzieher hinterher, die Leiter wackelt, ich fluche dezent, das Kind pfeift.

Immerhin befindet sich das Kind in prominenter Gesellschaft. Den Älteren unter uns ist sicher Herr von Bülow ein Begriff, bekannt auch als Loriot. Und immer, wenn das Kind pfeift, erinnere ich mich an den Sketch „Der Kunstpfeifer“: „Ich pfiff das erste Mal öffentlich 1954 auf der Zuchtbullenversteigerung in Hannover und dann 1956 bei den Salzburger Festspielen. Ich habe zur Krönung der Königen Elisabeth gepfiffen, anlässlich der ersten Bundestagssitzung, mehrfach bei der UNO und vor dem Obersten Sowjet.“

Das Schöne an Phasen ist, dass sie vorübergehen. Mal ein paar Tage, mal ein paar Wochen. Man kann verlässlich sagen: Phasen gehen vorüber. Auch wenn es mitunter schwer fällt, ich ertrage die Phase meines Kindes jetzt einfach stoisch, denn ich weiß: Sie geht vorbei.

Umgekehrt gehe ich aber ein hohes Risiko ein, wenn ich die Phase im größeren Stil thematisiere. Selbstverständlich kann ich mit meinem Kind über Musik an sich diskutieren. Es würde mir vielleicht mit Loriot antworten: „Moderne Kompositionen erfordern geistige Mitarbeit!“ Würde ich anmerken, mein Geschmack sei anderer ist, käme vielleicht: „Aber entscheidend ist doch das künstlerische Gesamtkonzept!“ Und argumentierte ich, dass das dauernde Geflöte in jedweder Situation nervt, könnte das Kind kontern: „Das Verständnis für zeitgenössische Musik ist außerdem eine Gewohnheitsfrage! Das geht natürlich nicht so glatt ins Ohr wie Peter Alexander.“

Nein, mit einer solchen Diskussion läuft man Gefahr, dass sich die Phase festsetzt, dass aus der Phase eine Marotte wird. Marotte aber können dauern, und manche enden nie. Nachher wird das Kind tatsächlich Kunstpfeifer von Beruf!?

Da kommt das Kind vorbei und verschwindet in die Speisekammer. Es pfeift nicht. Es pfeift nicht?? Das Kind kommt aus der Speisekammer heraus, kaut, bläst die Backen auf und macht – Kaugummiblasen. Aha, ist jetzt also wieder eine Kaugummiphase dran. Doch ich bin ganz entspannt: Selbst der Oberste Sowjet und Peter Alexander waren nur Phasen.

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