Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge neunzehn
Du sollst nicht lügen

Heute kommt der zweite Teil der beliebten Serie über die Unvereinbarkeit der zehn Gebote mit dem modernen Familienleben: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Vulgo: Lüg nicht!

Jedes Kind hat sein Lieblingsviech, das immer und überall dabei ist. Manche Stoffviecher unterliegen täglich wechselnden Launen, manche haben starke Phasen. Die Puppe Lara hatte eine starke Phase kurz vor den Ferien, und trotz aller Bemühungen und Ermahnungen war sie eines Tages weg. Im Kindergartenbus vergessen!? In der Zentrale des Busunternehmens hieß es, nein, eine Puppe wie beschrieben sei in keinem der Fahrzeuge gefunden worden. Allerdings...

Allerdings hatte man einige puppenähnliche Trümmer gefunden, einen Torso, einen halbe Arm. Zwar sähen die Teile eher nach etwas ehemals Selbstgemachten aus... Der liebende Papa schluckt hörbar. Auch sein Herz hing an Lara: Weil wir sie unserem Kind zum ersten Geburtstag geschenkt hatten und weil sie keine Null-acht-fuffzehn-Puppe aus der Post-Spielzeug-Schreibwaren-Kaffee-Filiale war. Die Vorstellung, das diese Puppe einigen brutalen Kleinkindern zum Opfer gefallen sein sollte, fanden wir beängstigend, und weil Lara weiter verschwunden blieb, nahmen wir lieber an, dass jetzt ein anderes Kind in ihr Kleidchen schnuffelt.

Allein, der Urlaub nahte, und das Kind erklärte ultimativ, ohne Lara nicht in den Urlaub zu fahren. Eltern können das verstehen. Und da wurde das Gebot des Herrn übertreten.

Wir besorgten in der Post-...-Filiale eine Hilfspuppe und erklärtem dem Kind, dass Lara auch Urlaub mache, und zwar auch Urlaub von uns, und deshalb eine Reise mit dem Busfahrer unternehme. Das Kind schluckte schwer und schluckte es. Die Hilfspuppe wurde Lelle benamst und ging mit uns auf Reisen.

Nun musste allerdings aus skandinavischer Ferne dafür gesorgt werden, dass auch Laras Urlaub nach unserem Urlaub ein Ende fand und sie also wieder auf der Bettkante hockte wie ehedem. Das war nicht einfach, die Handygebühren aber erheblich. Lara war vor langer Zeit gekauft in einer fernen Großstadt. Mit Internetrecherchen fanden wir heraus, wie der Hersteller der Puppe hieß und wie die Puppe selbst. Einen Direktversand gab es nicht. Wir bebettelten fernmündlich den Spielzeugladenbesitzer, uns ein Exemplar aufzutreiben. Der Mann wies darauf hin, dass der Hersteller die Puppen nur im Viererpack an ihn verkaufe und er doch schwer überlegen müsse, ob er sich allen Ernstes weitere drei Exemplare... Wir schilderten unsere elterliche Not, der Mann hatte selbst Sprösslinge und also Erbarmen.

Natürlich roch das Kind den Braten. Denn Lara roch anders, aber klar, nächste Lüge: Lara sei ja auch im Urlaub gewesen und habe sich in der Fremde Parfüm gekauft. Da rieche man erst mal fremd und anders, das ist wie bei Mama.

Müßig zu berichten, dass Lara II heute irgendwo in der mittleren Ebene des Berges mit Puppen und Stoffviecher liegt, kaum beachtet, kaum geliebt. Denn unangefochtene Nummer eins ist zur Zeit ein Delphin, den schon meine Frau als Kind durch die Landschaft trug. Und wenn ich das Kind mit diesem Delphin jetzt in den Bus steigen sehe, so graut mir vor den Folgen, wenn dieser eines Tages...

Du sollst nicht lügen.

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