Rainer Kolbe - Das Kind

 

200 Kinder sind so tapfer

Kinder weinen, oft, gerne, spontan und ausführlich. Manchmal nur deshalb schon, weil ein schöner Tag zu Ende geht. Oder weil sie ein wenig gegen den Gartenzaun gedengelt sind und sich, nun ja, „verletzt“ haben. Tränen fließen, weil andere Kinder das Kind nicht mitspielen lassen. Tränen fließen, weil das Kind genervt ist oder müde oder wütend oder enttäuscht oder gelangweilt oder was weiß ich denn. Und selbst wer sich auch nur beinahe gestoßen hat, kann herzzerreißend weinen. Ist mein Kind weinerlich?

Kinder weinen nicht nur, Kinder toben auch gerne, und manchmal tun sie beides zugleich. Toben aber muss sein, damit sich die Kinder gut entwickeln. Wer in der glücklichen Lage ist, einen Garten zu haben oder wenigstens in der Nähe eines Parks wohnt, der kann und muss Sorge dafür tragen, dass die Kinder nicht schon im zarten Alter vor der Glotze verfetten.

Meine Kinder toben Gott lob gerne. Ich selbst, nun ja, ähm, also, ab und an tobe ich auch mit. Zum Beispiel mit einem Ball vor den Füßen. Meine Kinder aber haben leider beide einen Hang zu Extremsportarten: auf Bäume klettern, auf Mauern balancieren. Ich selbst bin kein Stück schwindelfrei. Teppichkante geht noch. Oben auf der Sicherheitsleiter beim Lampenaufhängen, das ist schon nicht so ganz einfach. Folglich verursacht mir der Anblick des dreieinhalb Meter hoch im Baum baumelnden Kindes ein ungutes Gefühl im Magen. Der Ganzlütte wiederum läuft gerne auf der Krone der Mauer entlang, die den Garten zur Straße abgrenzt. Die ist keineswegs stark befahren, die Straße, und die ist keineswegs hoch, die Mauer. Aber als ich neulich einmal grob überschlagen habe, wie hoch die Mauer für mich wäre, relativ zur Körpergröße, da verursachte mir schon die Berechnung ein ungutes Gefühl im Magen.

All das waren Gründe, irgendwann eben doch Herrn Huschke anzurufen und eine Kinder-Unfall-Versicherung abzuschließen. Was allerdings rein gar nichts an meinem Magen ändert.

Als Bäumekletterer hat das Kind natürlich auch ein Fahrtenmesser, gelegentlich frönt es also der Schnitzkunst. Fallweise frönt es dann auch der Kunst des Abrutschens, weil es eben mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache war. Soll vorkommen. Dann klärt sich schnell, dass auch ein Kindermesser richtig scharf ist. Wie gut, dass wir von den Blümchenpflastern einen ausreichenden Vorrat in der Küchenschublade haben, denn nur Blümchenpflaster vermögen gleichzeitig den – eher geringen – Blutfluss zu stillen als auch zu trösten.

Vor Feuer allerdings hat das Kind ehrliche Angst, weshalb es auch einen Bogen um Streichhölzer macht und Kerzen nur anzündet, wenn ich ihm die Hand führe. Feuer, Hitze, Öfen, eine sichere Sache. Dachte ich neulich, als ich gerade den Ganzlütten zu Bett bringen wollte und dem Kind launig und durchaus ironisch zurief, es könne ja schon mal die Käsebrötchen in den vorgeheizten Ofen legen, dann könnten wir bald essen. Zweihundertzwanzig Grad.

Einen Schrei habe ich nicht gehört, und das Launige hat das Kind offenbar nicht gehört. Schluchzend kam es die Treppe hoch. Beim dritten Brötchen war es mit der Hand gegen den heißen Ofenrand geraten und hatte sich verbrannt.

Doch dann tat das Kind etwas, das – relativ – mache Erwachsene erstmal nachmachen sollen. Es hat die Brötchen, die schon im Ofen waren, wieder herausgeholt, damit nicht die einen fertig und die anderen roh seien. Und dann hat es auch noch die Ofentür geschlossen, damit der Ofen nicht kalt werde. Erst danach ist es schluchzend die Treppe hochgekommen, hat sich von mir kühlen und versorgen und trösten lassen.

Und wenn ich manchmal denke, meine Güte, nun sei doch nicht weinerlich, dann denke ich auch an unseren Ofen: Kinder sind so tapfer!

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