Rainer Kolbe - Das Kind

 

202 Das Erntefest der Landfrauen

Wir wohnen auf dem Dorf. Früher wollte ich ja nie aufs Dorf. Aber ich wollte auch nie heiraten und nie Kinder haben. So viel zur Ernsthaftigkeit meiner Lebensentwürfen: Alles nur Sprüche! Aber mein Leben ist trotzdem oder vielmehr gerade deshalb gottgefällig, denn es steht geschrieben „In eines Mannes Herzen sind viele Pläne; aber zustande kommt der Ratschluss des Herrn.“ Sprüche 19, Vers 21. Na also.

Dorfgemeinde hin, frische Landluft her – als Kind der Großstadt fehlt mir dieselbe ab und an natürlich schon. Menschen und Gewühl, Geschäfte sonder Zahl, Untergrundbahnen und Hochbahnen, Stau ohne Ende, Kinos und Kneipen, der großen Fluss, weitläufige Parks und enge Kneipen und Kioske mit zweiundvierzig verschiedenen Tageszeitungen – die volle Folklore.

Die volle Folklore haben wir hier auf dem Dorf natürlich auch. Zum Beispiel beim Erntefest der Landfrauen. Da wollte ich gerne hin, um an der Seite der Pastorin am gesellschaftlichen Leben teil zu haben. Allerdings hatte unsere Kindersitterin an diesem Abend überhaupt gar keine Zeit. Doch das Fest fand ja direkt neben dem Pastorat statt, im Kirchspielkrug. Und das Kind ist bald acht Jahre alt und ein verantwortungsvoller Mensch und kann auch mal zweieinhalb Stunden auf den Ganzlütten aufpassen, zumal wenn beide tief schlafen.

Wie viel Verantwortung kann ein achtjähriges Kind tragen? Oh doch, das Kind trägt viel Verantwortung. Für sich selbst natürlich, zumindest in den Fällen, in den es sein Tun und Lassen einigermaßen abschätzen kann. An einigen Stellen passe ich schon auf, und manchmal sage ich NEIN.

Das Kind trägt auch Verantwortung für andere Lebewesen, für seine Meerschweinchen zum Beispiel, da passe ich aber schon mit auf, und manchmal sage ich tatsächlich NEIN, wenn das Kind mich in einer Woche zum siebten Mal fragt, ob ich die Viecher nicht füttern könne, vielleicht, nur noch diese eine Mal, och Papa, bütteee!!

Und schließlich trägt das Kind sogar Verantwortung für den kleinen Bruder. Diese Verantwortung äußert sich mitunter in einem etwas barschen Ton (um es moderat zu formulieren), weil ein Zweijähriger fallweise andere Vorstellung hat von den Regeln des gemeinsamen Spiels. Zumindest, wenn die Regeln immer von der großen Schwester aufgestellt werden. Aber der Ganzlütte ist durchaus in der Lage, auch in barschem Ton zu antworten, weiß sich also zu wehren.

Oft aber hocken diese beiden so unterschiedlichen Kinder auf dem Boden und spielen voller Seligkeit und Eintracht miteinander, scherzen und plaudern und singen. Leider lässt sich dieser verantwortungs- und liebevolle Umgang zweier Geschwister miteinander nicht bestellen noch vorhersagen. Manchmal klappt's, manchmal nicht. Und manchmal kommt die Geschwisterliebe auch so ganz überraschend, und dann kann man die Kinder still und ein wenig heimlich beobachten und dieses kleine Geschenk im Alltag genießen.

Vor ein paar Tagen waren wir im Wald spazieren – seit dem Umzug gibt’s tatsächlich einen echten Wald in unserem alltäglichen Horizont! Das war eine ernste Sache: „Papa, wir wandern!! Wir sind doch keine Touristen, die hier nur spazieren!!“ Und es war mir die reine Freude, wie das Kind dem kleinen Bruder über herumliegende Stämme half, seine Hand ergriff bei der alten Steintreppe am halb verfallenen Ansitz und ihm schließlich auf den niedrigsten Ast eines halbwegs brauchbaren Kletterbaumes half.

Diese liebevolle Verantwortung schien mir eine gute Voraussetzungen zu sein, um, wie erwähnt, einen Abend an der Seite der Pastorin gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Doch es kam anders...

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