Rainer Kolbe - Das Kind

 

203 Berlin! Berlin! Ich fahre nach Berlin!

Es ist alles besprochen. Das Erntefest der Landfrauen, zu dem ich als Partner der hiesigen Pastorin geladen bin, findet im Kirchspielkrug statt, und der ist direkt neben dem Pastorat, also gleich hinter unserem Garten, Zaun an Zaun mit den Meerschweinchen sozusagen. Das Babyfon reicht nicht vom Ganzlütten bis zum Krug, deshalb wird der Empfänger beim Kind installiert. Ich lege dem Kind das Telefon bereit, auf einem Zettel notiere ich in deutlichen Ziffern meine Handynummer. Ich erläutere, dass es nicht allein ist, dass es mich jederzeit anrufen kann, dass ich für den Weg vor dort nach hier ungefähr neunzig Sekunden benötige, falls etwas sein sollte. Aber was soll sein? Der Ganzlütte schläft meist gut und fest und das Kind sowieso.

Ich klappe das Bügelbrett auf und denke an früher. Meine Eltern gingen öfter mal in der Kneipe, während mein Bruder und ich zuhause selig schliefen. Kein Babyfon, kein Handy! Ja, so waren sie, die wilden Siebziger! Während ich meine gute Hose bügele, beginnt das Kind etwas unruhig zu werden. Als ich ein Hemd wähle, beginnen leise Tränen zu rinnen. Und als ich meine schwarzen Schuhe auf Hochglanz poliere, stürzt mir das Kind in die Arme: „Geh nicht weg!!“

Ich versuche, das Kind zu beruhigen. Noch einmal: Ich bin direkt nebenan. Dort auf dem Tisch liegt das Telefon, die Nummer daneben. Wenn etwas ist, bin ich in neunzig Sekunden da. Und da ich noch erkläre und tröste und festhalte, ist mir doch klar: Ich werde nicht gehen können. Das Kind hat Angst, Kinderangst: Vor der Verantwortung, vor Feuer, vor Dunkelheit, vor dem großen Haus, vor Einbrechern, vor dem Babyfon. Das Kind mag nicht allein sein.

Schade, ich hätte die Lieblingspastorin gerne begleitet auf das Fest. Doch mein Kind ist mir näher als die Landfrauen. Also bleibe ich. Das Kind schluckt erleichtert, seufzt, zieht Rotz hoch und stöpselt das Babyfon wieder aus, reicht es mir. Das Babyfon als Zeichen. Dann beginnt das Kind wieder zu weinen. Warum jetzt? Weil ich nicht auf das Fest gehen kann, auf das ich doch gerne gehen möchte. So sehr liebt mich das Kind!

Am nächsten Tag sind die Sorgen und Nöte vergessen, das Kind lernt gerade ein neues Lied. Von Fußball hat es zwar keine Ahnung, doch den Ton trifft es genau: „Berlin! Berlin! Ich fahre nach Berlin!!“ Fußballfans singen das Lied ja, wenn sich ihr Lieblingsverein dem Finale des Pokals nähert, denn das findet ja immer in Berlin statt: „Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!“

Ja, das Kind fährt nach Berlin – ganz alleine mit der Bahn. Ganz alleine? Nun ja, fast. Es gibt auf ausgewählten Strecken in ausgewählten Zügen nämlich einen Kinderbetreuungsdienst von der Bahnhofsmission. Der heißt natürlich nicht „Kinder unterwegs“ oder so, sondern „Kids on tour“. Und ist zum Beispiel für Scheidungskinder gedacht. Freitag nachmittags in der einen Richtung, sonntags in der anderen. Mal sehen, was die anderen fünf Kinder im Abteil meinem Kind erzählen...

Eine Vorgeschmack bekam ich beim letzten Besuch der Freundin Sonja: Sonja wird abgeholt, Tränen über Tränen. „Papa, Aaaarm!“ Oh Gott, ich dachte, wir seien aus dem Gröbsten raus. Nach einigen Minuten sind die Tränen versiegt. Das Kind schmiegt sich an meinen Hals. „Am liebsten würde ich dich aufessen!!“ So sehr liebt mich das Kind! Und doch wage ich einzuwenden: „Aber dann hast du ja keinen Papa mehr!“ Da wird das Kind schon wieder ganz locker: „Macht nichts!! Dann kann Mama ja einen anderen Mann heiraten!!“ So sehr liebt mich das Kind...

Jetzt aber freut es sich erstmal, endlich einmal ALLEIN unterwegs zu sein. OHNE Mama, OHNE Papa. Und OHNE den nervigen, lauten, geliebten kleinen Bruder.

„Berlin! Berlin! Ich fahre nach Berlin!!“

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