Rainer Kolbe - Das Kind

 

204 Mit ohne Kind

Nun freut sich das Kind also: Endlich einmal ALLEIN unterwegs sein. OHNE Mama, OHNE Papa. Und OHNE den nervigen, lauten, geliebten Bruder. Die Tage davor sind aufregend, es wird gebastelt für die Tante, es wird gepackt und umgepackt, Stofftiere müssen gewählt und verworfen und wieder gewählt werden. Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt: „Berlin! Berlin! Ich fahre nach Berlin!!“

Irgendwann ist es dann so weit. Das Kind wird zum Bahnhof gebracht, den Christenmenschen von der Bahnhofsmission anvertraut, mit allerlei guten Wünschen und freundlichen Ermahnungen versehen. Schon auf dem Bahnsteig entdeckt das Kind in der Kindergruppe genau das Mädchen, das auch gerne redet und gerne lacht und gerne Quatsch macht. Kaum dass es sich jetzt noch einmal umdreht. Immerhin, es winkt. Und steigt dann in den Zug.

Das Kind ist weg. Und jetzt?

Tja, jetzt habe ich Urlaub. Jetzt haben wir Urlaub, der Rest der Familie. Urlaub vom nervigen, lauten, geliebten Kind. „Papa??“, fragt da eine kleine kräftige Stimme neben mir. „Ja?“ „Papa Berlin auch??“ Nein, wir fahren nicht nach Berlin, wir fahren an die Ostsee, sogar nach Vorpommern, gaaanz weit weg. „Papa Mama Meiner Auto??“ Und genau so war es dann auch.

Wir fahren quer durch Schleswig-Holstein, fahren durch Mecklenburg, durch halb Vorpommern. Irgendwann sind wir da, eine Insel, ein Strand, eine schöne alte Villa, darin unsere Ferienwohnung.

Eine Stimme weniger. Zwei Beine weniger, zwei Hände weniger. Zweidrittel Lautstärke weniger, Dreiviertel Text weniger. Große Ruhe breitet sich um uns aus. Sie wird nur gering gestört vom Geplauder und Gelächter und Geschrei eines fröhlichen Zweieinhalbjährigen in akuter Trotzphase.

Einige Urlaubsbilder: Wir sitzen am Strand. Der Ganzlütte schaufelt Sand auf meine Hosenbeine und singt dazu ein Lied. Ich muss nur dasitzen und geduldig sein. Wir gehen spazieren, bummeln, kaufen was ein. Ich muss nur auf den Ganzlütten aufpassen, der nicht an der Hand spazieren will, sondern seinen eigenen Kopf und seine eigenen Füße hat. Wir sitzen in unserer Ferienwohnung am Tisch, essen und unterhalten uns. Ich muss hinterher nur an einem Platz wischen und aufsammeln. Wir fahren mit einem Linienbus über Land. Ich muss nur jeweils eine Kinderfrage zur Zeit beantworten. Wir lesen ein Buch vor. Ich muss nur ein Buch lesen, ein Lied singen, ein Kind ins Bett bringen.

Plötzlich ist da ganz viel Zeit für ein kleines Kind. Zeit und Geduld und Hinsehen und Zuwendung. Es ist auch Zeit zum Sandschaufeln und gucken und unterhalten und bummeln. Es fehlt ja auch eine weitere Stimme, es fehlen zwei weitere Hände und zwei weitere Beine, es ist um zweidrittel weniger laut.

Beim weiteren Überlegen komme ich drauf: Es sind natürlich nicht die fehlenden Hände und Sätze und Laute, die das Leben im Urlaub ruhiger machen. Aber der Alltag ist fern, der Computer, der Fernseher sowieso und alle so alltäglichen Reize. Warum bin ich im Alltag häufig genervt oder gelangweilt, auch von den eigenen geliebten Kindern?! Weil ich so wenig Zeit habe? Oder weil ich mich im Alltag zu oft mit vielen nicht sehr wichtigen Dingen beschäftige? Wo ist das wirklich Wichtige? Sand schaufeln, gucken, unterhalten, bummeln.

Keine sehr originelle Erkenntnis vielleicht, aber ab und an ganz wohltuend.

Irgendwann ist der Urlaub zu Ende. Wir packen unser Urlaubsgerümpel ein und fahren nach Berlin, um das Kind bei der Tante abzuholen. Und ich spüre: Nur komplett sind wir komplett.

Da ist Berlin, da ist das Kind. Jetzt sind wir komplett, Gott sei Dank. Und es war schön für alle, für jeden an seinem Ort, für jeden auf seine Weise, für jeden mit seiner Erkenntnis. Gott sei Dank.

 

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