Rainer Kolbe - Das Kind

 

207 Zöpfe wie Pippi

Natürlich treibt man als Vater gern Schabernack mit seinen Kindern. Kleine Scherze lockern den Alltag auf, und Kinder lernen die Welt viel besser zu durchschauen, wenn sie daheim ein wenig nachdenken müssen, ob das, was Papa gerade gesagt oder getan hat, eigentlich auf welche Weise zu verstehen sein kann oder sollte. Das Kind aber ist ein Mensch mit Charakter, klar. Und da gibt es individuelle Grenzen des Scherzens. Hinter diesen Grenzen liegen die unwegsamen Ländereien des Ärgerns, der schlechten Laune, und noch dahinter das annähernd unzugängliche Gebiet des Zorns und der Wut.

Als Vater, der sein Kind kennt und sich selbst auch, schätzt man diese Grenze als ein Ort, an dem man gelegentlich die Geduld seines Kindes und auch die eigene Geduld mit dem Kind, nun ja, austestet. Als liebender Vater wird man diese Grenze nicht überschreiten, aber ein wenig mit ihr spielen, och, das muss schon mal sein.

Grenzüberschreitungen gibt es dort, wo die Mitmenschen einen nicht so gut oder nur zu gut kennen. Das Kind kommt aus der Schule nach Hause und beschwert sich über Niels, der in jeder Pause die ganze Zeit hinter ihm her gelaufen sei und ständig gerufen habe „Langstrumpf! Langstrumpf!“

Nun scheint dieser Niels nicht sehr helle zu sein, wenn ihm das wirklich jede Pause als Beschäftigung gereicht haben sollte. Aber den Ärger meines Kindes habe ich zuerst nicht verstanden: Es hat lange Zöpfe, und Pippi Langstrumpf ist ein Idol von ihm. An eben diesem Tag waren die Zöpfe auch noch mit Draht verstärkt und standen seitlich vom Kopfe ab. Worüber ärgert sich also meine Tochter?

Es kristallisiert sich heraus, dass sie einfach in Ruhe mit ihrer besten Freundin in der Pause spielen und sich nicht das dämliche Getue von irgendwelchen Jungs anhören wollte. Allerdings kristallisiert sich auch heraus, dass sie mehrmals zur Pausenaufsicht gelaufen war, um sich über den Sprüche klopfenden Niels zu beschweren – und dass diese reinweg gar nichts unternommen habe.

Ich kenne Niels nicht. Vielleicht ist das ganz genau der Pausenidiot, als den mein Kind ihn beschreibt und wie es ihn auf allen Schulhöfen der Welt gibt. Übrigens nicht nur auf Schulhöfen.

Nehmen wir also an, dass Niels ein Pausenidiot ist. Dennoch kann ich mich in ihn hineindenken: Ein Mädchen mit Zöpfen, das sich ärgern lässt, das zur Pausenaufsicht rennt, weil einer blöde Sprüche macht: Ein gefundenes Fressen.

Uns Eltern obliegt jetzt die dankenswerte Aufgabe, dem Kind etwas beizubringen, was wir seit vielen Jahren versuchen, ihm abzugewöhnen: Zum einen Ohr rein, zum anderen Ohr raus. Jetzt muss es lernen zu unterscheiden, dass die väterliche Mahnung, eventuell mal wieder den Meerschweinchenstall zu säubern, zwar zum einen Ohr rein, aber keineswegs zum anderen wieder raus soll, während blöde Sprüche auf dem Schulhof sehr wohl zum anderen Ohr wieder raus müssen, will man sich mittelfristig nicht zum Gespött machen.

Und dann denke ich an daran, wie es früher war, auf meinem Schulhof: Ich neigte eher nicht dazu, mit gleichaltrigen Jungen Raufhändel zu suchen, dafür um so eher, mit gleichaltrigen Mädchen zu spielen. Ich erinnere mich an Elisabeth, die hatte Zöpfe, aber nie hätte ich es gewagt über sie zu spotten!

Meine zwei Jahre jüngere Kusine hatte ebenfalls Zöpfe. Es war mir ein Vergnügen, nicht nur zu spotten, sondern auch kräftig daran zu ziehen! Doch die eigene Kusine ist natürlich etwas anderes, eine Kusine gehörte zur Familie, in der Familie gelten andere Regeln!

Ich biege um die Ecke. Da steht der Ganzlütte im Flur, er betrachtet seine Schwester. Er betrachtet die langen Zöpfe seiner Schwester.

Ich kann sehen, was er denkt. Jungs eben.

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