Rainer Kolbe - Das Kind

 

209 Adventswünsche

Nun aber nähert sich der Zug schon der großen Stadt, er endet dort und wird wohl aufs Abstellgleis rangiert. Wir müssen aussteigen. Also alles wieder einpacken und einhüllen, lautstark. Ich beschließe, erst alle anderen Reisenden aussteigen zu lassen, um dann in großer Gelassenheit mit den Kindern und unserem ganzen Gerümpel auszusteigen...

Der Zug erreicht die große Stadt, schlängelt sich über viele Weichen, es quietscht, der Zug hält. Wir verlassen als Letzte den Zug, gehen den Bahnsteig entlang – plötzlich fasst sich das Kind an den Kopf: „Meine Mütze ist weg!!“ Des Kindes heiß geliebte Mütze, von der heiß geliebten Mutter mit heißer Nadel eigenhändig gestrickt! Hat das Kind sie beim Umsteigen verloren? Ist sie im Abteil liegen geblieben? Ich Esel, auf Teddy habe ich natürlich geachtet, nicht aber auf die Mütze!

Ich gebiete dem großen und dem kleinen Kind einander gut festzuhalten und hetze zu unserem Waggon zurück, schiele durch das Fenster in unser Abteil, entdecke nichts. Ich traue mich nicht einzusteigen, nachher lande ich mit dem Zug auf dem Abstellgleis, während die Kinder vaterseelenallein und tränenüberströmt auf dem großen Bahnhof der wilden und gefährlichen Stadt zurückbleiben.

Langsam gehe ich zu den Kindern zurück, lege mir tröstende Worte zurecht über das Fundbüro – das Kind winkt mir schon aus der Ferne fröhlich mit der heiß geliebten Mütze zu. Hat es gerade in seinem Trolley gefunden. Hatte sie dort kurz vor dem Aussteigen reingesteckt. Ist ja auch schon wieder eine Ewigkeit her. Kann man im Alter von sieben Jahren unmöglich noch erinnern. Wer sagt, dass Vergesslichkeit ein Zeichen für hohes Alter ist? Es ist bestenfalls ein Zeichen für Alter. Für jedes.

Wir atmen alle fröhlich aus, die Luft dampft, der Ganzlütte hat wieder Hunger, jetzt müssen wir nur noch S-Bahn fahren. Bis hierher war die Reise einfach. Doch wir sind gut im Training, die Durchsage „wegen eines Polizei-Einsatzes in Harburg verspätet sich die nächste S-Bahn Richtung Wedel auf unbestimmte Zeit“ schreckt uns kaum. Als dann endlich eine Bahn kommt, ist die Fahrt nach zwei Stationen schon wieder zu Ende, „wegen einer suizidgefährdeten Person ist die Strecke bis auf weiteres gesperrt“. Ich muss erklären, was „suizidgefährdet“ heißt, und das Kind ist geradezu verärgert: Dass es Menschen gibt, die nicht wissen, wie gefährlich es auf den Gleisen ist!

Doch schließlich erreichen auch wir unser Ziel. Und auch wenn es Sie als Leserin und Leser bei der Lektüre vielleicht das Gefühl hatten, einer anstrengenden Reise beigewohnt zu haben: Nö, war es gar nicht. Ich darf mir vor einer solchen Reise nur nicht vornehmen, in meinem „Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden“ lesen zu wollen oder in der Zeitung. Sind aber Schöpfer und Fatum gnädig gestimmt, ergibt es sich vielleicht, ich darf es nur nicht erwarten. Wie passend für diese Jahreszeit...

Manchmal aber hege auch ich geheime, weltfremde Wünsche: Ganz allein sein! Ganz ohne Kinder! Mal wieder in ein Konzert gehen. Mich am helllichten Tage bei einem Eimerchen Latte Macchiato mit einem alten Freund treffen. In großer innerer und vor allem äußerer Ruhe einen Adventsgottesdienst besuchen.

Doch ein Adventswunsch wird mir am nächsten Sonnabend erfüllt werden: Ich darf ganz alleine einkaufen! Ohne Kinder! Ohne Quengelware an der Kasse, ohne herumrollende Salatköpfe, ohne Wettfahrten mit zwei Kindereinkaufswagen und ohne die eeewiglich lange Diskussionen, ob wir nicht vielleicht doch von diesem suuuperleckeren Schokoladendessert mit garantiert einem Extraplus an Zucker und wundervollen künstlichen Aromen gleich eine ganze Palette kaufen können!

Wahrscheinlich wird das total langweilig...

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