Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge zwanzig
Klartext

Familien entwickeln ja eine ganz eigene Sprache – bei uns ist es das Bubedische, siehe Folge vierzehn. Doch Babylonien ist noch viel größer. Denn Eltern entwickeln zusätzlich eine hochartifizielle Elternsprache, die ausschließlich in Gegenwart des Kindes zur Anwendung kommt und nur dann, wenn Themen erörtert werden müssen, die besser nicht in Gegenwart des Kindes besprochen werden sollten.

Kinder haben ein unglaubliches Talent. Man denkt, sie quälen gerade in aller Unschuld den Hund und sind also voll beschäftigt, und zack!, haben sie doch wieder mitbekommen, was sie nicht mitbekommen sollten. Beliebte Themen sind 1) Überraschungen, die Überraschungen bleiben sollen, 2) Planungen von weit in der Zukunft liegenden Dingen wie dem nächsten Wochenende und 3) wer wann mit wem und warum.

Nun kann man das eine oder andere in Ruhe besprechen, wenn das Kind gerade auf Klo ist. Wenn nicht, verwenden wir die Elternsprache. Ein einfaches Beispiel:

Unsere Babysitterin hat abgesagt, es droht das Duell „Kirchenvorstandssitzung gegen Kindergartenelternabend“. Ich möchte meiner Frau also sagen „Susanne hat angerufen, sie kann am Dienstag in der nächsten Woche leider nicht!“. Doch das Kind sitzt daneben, auf Klo war es gerade. Sage ich tatsächlich „Susanne hat angerufen, sie kann am Dienstag in der nächsten Woche leider nicht!“, dann wird das Kind lautstark folgende siebzehn Fragen anhängen:

Eins: Was ist am Dienstag?? Zwei: Wo gehst du dann hin?? Drei: Wann kommst du wieder?? Vier: Kommt Susanne?? Fünf: Warum kommt Susanne nicht?? Sechs: Was macht sie da?? Sieben: Wieso weißt du das nicht?? Acht: Wieso geht uns das nichts an, ich will es doch wissen?? Neun: Wie lange bleibt Susanne da?? Zehn: Kommt sie dann am Mittwoch?? Elf: Ja, kommt sie denn nie wieder zu uns?? Zwölf: Und wo ist Mama dann?? Dreizehn: Wann kommt Mama wieder?? Vierzehn: Bin ich dann ganz alleine?? Fünfzehn: Nein, Petra soll nicht kommen, Susanne soll kommen, Petra ist doof, Papa, du findest die doch auch doof, oder?? Sechszehn: Kann Oma nicht kommen?? Siebzehn: Warum kommt Oma nie nie nie zu mir??

Es ist schön, wenn ein Kind sich die Welt fragend und suchend erforscht und aneignet. Und nichts Schöneres gibt es, als dem Kind dabei als verlässlicher Vater zur Seite zu stehen und ihm zu zeigen und erklären genau diese Welt, auf dass es weiter fragt und sucht und forscht und eignet. Und deshalb werden bei uns ganz selbstverständlich alle Kinderfragen erschöpfend beantwortet. Also, bis wir Eltern erschöpft sind.

Gaaanz selten aber gibt es Momente, in denen nicht genügend Zeit ist, alle siebzehn Kinderfragen mit der und bis zur notwendigen Erschöpfung zu beantworten. Jetzt kommt die Elternsprache zur Anwendung. Und der einfache Satz „Susanne hat angerufen, sie kann am Dienstag in der nächsten Woche leider nicht!“ klingt dann so: „Das gelegentlich hiesig erscheinende weibliche Wesen aus dem näheren lokalen Umfeld hat sich fernmündlich geäußert und wird sich zu dem anberaumten fixen Termin am zeitlichen Horizont unser Planung nicht am Orte materialisieren können.“

Dieser Satz erscheint Ihnen länger als das Original? Er ist kürzer! Ihm fehlt der Anhang.

„Papa... Was ist am Horizont??“

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