Rainer Kolbe - Das Kind

 

212 Kleine grüne Flitzer

Wir haben das Kind genötigt, einen Mittagsschlaf zu halten, was es seit vielen Jahren nicht mehr getan hat, ausgenommen vielleicht im Krankheitsfall, aber das zählt natürlich nicht. Es hat diesen Mittagsschlaf auch freudig absolviert, es ging um Größeres: Um das Aufbleiben am Silvesterabend.

Nun gibt es ja solche Kinder und solche. Die einen spielen schon als kleinstes Kind am liebsten mit japanischen Messern und der Schachtel mit den „Sicherheits“hölzern. Die anderen Kinder sind eher zurückhaltender Natur, meiden Feuer und Feuerwehrbücher und können auch im zarten Alter von acht Jahren keine Kerze ohne Hilfestellung anzünden. Unser Kind kann beides: Mit scharfen Messern umgehen und keine Kerze ohne Hilfestellung anzünden.

Nun gehören die Eltern des Kindes nicht unbedingt zu den Pyromanen. Wir hatten mal einen Nachbarn, der war Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr. Was hat der gezündelt in der Jahreswechselnacht! Wegen dieses Nachbarn haben wir uns jede kostspielige Investition abgewöhnt: vor dem Haus stehen und das Spektakel betrachten, das hat gereicht und war absolut kostenneutral.

Das Kind ist also nichts anderes gewohnt von seinen Eltern und bestaunt unsere kleine Auswahl von Wunderkerzen und Minivulkanen, alles aus der Rubrik „Ganzjahresfeuerwerk“. Weiß das Kind ja nicht. Wendet die Schachteln, öffnet die Tüten und ist gänzlich aufgeregt vor lauter Vorfreude.

Erst einmal aber kommt „Dinner for one“, jährliches Pflichtprogramm. Das Kind hüpft vor dem Fernseher auf und nieder und kommentiert jegliches Stolpern und Lallen des Butlers, dass man als langjähriger treuer Betrachter der Sendung ums Haar die Szene verpasst, in der dieser das Blumenvasenwasser genießt.

Danach kochen wir und tafeln und plaudern, der Lidschlag des Kindes wird träger, unser allerdings auch, noch drei Stunden bis Mitternacht. Aufregung und Vorfreude lassen das Kind erzählen und fragen und herumalbern: Für Unterhaltung ist gesorgt.

Wir räumen den Tisch ab und spielen ein anspruchsvolles Brettspiel, also Scrabble für Fünfjährige. Dauert auch eine gewisse Zeit, noch eine Stunde und zwanzig Minuten. Alle gähnen. Unsere Lidschläge sind erheblich verzögert. Um kurz nach elf legt sich das Kind mit einem Buch aufs Sofa. Wir schmunzeln und fragen uns, wie wir es jemals wieder wach bekommen sollen. Aber das Kind liest tatsächlich, das Buch fällt ihm nicht auf die Nase. Ich könnte das jetzt nicht mehr... Doch bevor es entschlummert, zerren wir es vom Sofa hoch, hüllen uns in Mäntel und treten vor die Tür.

Der Hund, der seit dem ersten kleinen Böller am frühen Nachmittag Angst hat und zitternd nicht von meiner Seite weicht, versucht unauffällig in meine Manteltasche zu kriechen. Es misslingt. Wir zünden Wunderkerzen an und erfreuen uns an dem sanften Gefunkel. Irgendwo im Ort kracht ein etwas größerer Böller, der Hund versucht mit Gewalt in meine Manteltasche zu steigen. Dann läuten die Glocken, wir begrüßen das neue Jahr, wünschen einander Gutes (auch dem Hund) und erfreuen uns am Feuerwerk der Nachbarn.

Das Kind weint ein bisschen, die Böller sind doch sehr laut und wie wird sich der kleine Bruder nur fürchten in seinem Bett, aber der schläft, natürlich. Wer fürchtet sich hier...? Wir erläutern dem Kind den Zusammenhang zwischen Knallerei und bösen Geistern und neuem Jahr.

Das Kind schluckt und wagt den nächste Sprung: Es möchte jetzt etwas vom kleinen Feuerwerk selbst anzünden. Ich gebe einige sicherheitsrelevante Erläuterungen, das Kind zündet einen der Minikreiseln an, die über den Boden flitzen, grünlich-orange funkeln, einmal hopsen und verlöschen. Es gelingt! Und das Kind ist stolz auf sich.

Im nächstes Jahr lassen wir es so richtig krachen!

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