Rainer Kolbe - Das Kind

 

213 Das Einzelkind

Es ist ruhig im Haus. Der Ganzlütte spielt mit Lego, die Lieblingspastorin ist in der Kirche, ich räume die Küche auf. Dass der Ganzlütte ganz für sich mit großer Ruhe spielt kommt nicht so häufig vor, aber es kommt vor. Dass die Lieblingspastorin in der Kirche weilt, kommt natürlich häufiger mal vor. Und dass ich in der Küche werkel, ja, sogar das kommt vor.

Und dennoch, irgendwas ist anders. Irgendwie ist es so still, so leer. Ich blicke vorsichtig um die Ecke auf das spielende kleine Kind. Ganz versunken. Ganz allein. Ein Einzelkind... Der Ganzlütte fragt nach seiner großen Schwester. Aber die ist weg: Sie macht nämlich ein paar Tage Urlaub bei Oma in der großen Stadt! Und er sitzt da, so ruhig und – irgendwie allein.

Dass man Geschwister hat, merkt man besonders, wenn sie weg sind. Dass einem Geschwister fehlen, merkt man erst, wenn sie fehlen.

Und ich? So als Vater? Dass einem das Kind fehlt, merkt man erst, wenn es fehlt. Am ersten Tag kann ich es natürlich noch genießen. Mit einem Kind ist’s eben ruhiger im Haus als mit zwei Kindern. Beim Frühstück bleibt der zweite Hochstuhl leer? Muss ich also einen Teller und einen Becher weniger abwaschen, ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Zweiter Tag: Ich hole den Ganzlütten aus dem Kindergarten ab. Er fragt, ob wir auch die Schwester aus der Schule abholen. Aber die hat erstens noch Ferien und ist zweitens ja nicht da. Wir kommen zuhause an, er fragt, wo die Schwester sei. Ich erläutere es noch einmal grundsätzlich.

Dritter Tag: Der Ganzlütte sucht die Schwester in ihrem Zimmer. Ich will’s ein weiteres Mal erklären, aber er hat es längst verstanden: Die Schwester ist ja bei Oma. Gestern heute morgen. Er will zur Oma. Zur Oma oder zur Schwester?

Vierter Tag. Ich greife nach meiner Jacke. „Bei Oma abholen?“ „Nein, heute nicht. Morgen. Morgen holen wir sie ab! Morgen hast du deine Schwester wieder!“ Da freut sich der kleine Bruder.

Fünfter Tag. Wir fahren los. Der Ganzlütte zappelt und fragt umgehend, ob wir da seien. Nein, mein Schatz, dass dauert jetzt zwei Stunden. Aber die werden wir auch noch schaffen.

Während das Auto über die Landstraße rollt, rollt vor meinem inneren Auge der Film unserer Ankunft ab, verschiedene Möglichkeiten des Wiedersehens. Ich sehe, wie die Mutter stürmisch begrüßt wird, der Vater vielleicht auch noch ein wenig, dann wird das Kind sich umwenden und im Gästezimmer verschwinden, weil es jetzt unbedingt erstmal etwas holen muss, um es den Eltern zu zeigen. „Äh, vielleicht, also, dein Bruder möchte dir auch ‚hallo!’ sagen“, werde ich noch einwenden, doch ich finde kein Gehör. Und zwischen uns Eltern steht der Ganzlütte, etwas verdattert, er hat seinem Erfahrungsschatz gerade ein weiteres Kapitel des großen Mirakels „Schwester“ hinzufügt.

Die zweite Variante des Films zeigt mir eine Szene, in der das Kind im Türrahmen lehnt und mit achtjähriger Lässigkeit ein etwas gelangweiltes, halblautes „Hallo!!“ von sich gibt, sich sodann zwar küssen und drücken lässt, jedoch nur geringe Zeichen der Zuneigung gibt. Es scheint uns aber erkannt zu haben, immerhin.

In der dritten Variante schließlich wird das Kind an mir hochspringen und mir den Ganzlütten, den ich auf der Treppe vor der Haustür auf dem Arm hatte, annähernd aus denselben reißen, um ihn vor Wiedersehensfreude in die Arme zunehmen und zu herzen, dann purzeln beide auf den Boden in der Diele und lachen. Springen auf und laufen ins Wohnzimmer, werfen sich auf den Boden und spielen sofort Lego. Später sitzen sie auf dem Sofa, knabbern Kekse und gucken ein Buch an.

Wir Eltern kommen da gar nicht vor. Die beiden sind eben Geschwister.

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