Rainer Kolbe - Das Kind

 

214 Sooo groß!

Mitunter beschwert sich die Lieblingspastorin, dass meine Beiträge in dieser Kolumne manchmal tagebuch-artigen Charakter haben. Auch wenn das heute Blog heißt. Gestern erlebt, heute schon in der Zeitung. Also soll es dieses Mal eine gaaanz alte Geschichte werden.

Ich blättere in meinen Notizen – wie anderer Eltern auch sammle ich lustige und traurige, erhellende und faszinierende Anekdoten rund um mein Kind, meine Kinder. Und natürlich die besten Sprüche aus der Rubrik „Kindermund dreht Wahrheit um“.

Alte Geschichten. Aussprüche von früher. Anekdoten von einst. Ich blättere und blättere... fast immer ist von meinem kleinen Kind die Rede. Da geht das Kind an mir vorüber, das leibhaftige. Es ist acht Jahre alt. Es ist KEIN kleines Kind mehr.

In der Vorweihnachtszeit haben für die diversen Familienmitglieder Fotokalender produziert, mit Bildern der Kinder natürlich, aus dem letzten Jahr, für das nächste Jahr, also halbwegs aktuell. Und dabei fiel uns auf, wie „groß“, wie „ernst“ ein Kind von sieben oder acht Jahren gucken kann. Wie viel Erfahrung stecken in acht Jahren? Klar, noch nicht so viele wie in dreißig oder fünfzig Jahren – aber acht Jahre sind auch kein Pappenstiel, und das sieht man einem Kind durchaus an. Man muss nur hinsehen.

Vor zwei Tagen haben wir beim Herumräumen hinten links unten noch zwei Umzugskartons gefunden. Kinderklamotten waren darin, sogar zwei schon als vermisst geltende Stücke. Kurze Anprobe: viel zu klein. Zuletzt getragen: Im Sommer, keine sechs Monate her. Offenbar wächst das Kind. Das ist natürlich beruhigend. Einerseits. Andererseits wächst das Kind geradezu beunruhigend schnell.

„Komm mal her, mein großes Kind!“, flöte ich liebevoll. „Ich bin groß!“, kräht der Ganzlütte dazwischen: „Sooo groß!“ Und reißt die Arme hoch. So machen es alle kleinen Kinder, es gab sogar mal ein Kleinkindfertiggericht eines nahrhaften Herstellers, das hieß „Soo groß!“

Dieses Behaupten von Alter, dieses Feststellen eigener Größe und auch diesen empörten Ton hat eine Achtjährige schlicht nicht mehr nötig. Sie WEISS, dass sie kein kleines Kind mehr ist. Wozu es also erwähnen? Schließlich erwähnt ja auch keiner Tag für Tag, dass der Tisch vier Beine hat und der Hund ebenso. Das sind selbstverständliche Dinge.

Einem achtjährigen Kind aber ist bewusst, dass es älter wird, größer und erfahrener. Und ganz nebenbei: Diesem Kind war das immer schon bewusst. Doch auch einem fünfjährigen Kind ist klar, dass es mal drei Jahre alt war.

Also doch etwas von „früher“. Das erste Beispiel, vor einem Dreivierteljahr. Das Kind trägt sein langes Haar offen und geht an einem dunklen Fenster vorbei. „Wenn ich mich so im Spiegelbild betrachte, sehe ich aus wie vierzehn!!“ Gott behüte, ich dachte, wir haben noch ein paar Jahre!?

Das zweite Beispiel, das Kind ist fünf Jahre alt und formuliert im Angesicht der Spritzer auf dem Badezimmerspiegels: „Da habe ich draufgespuckt, als ich noch ein kleines Kind war.“ Ja, damals, als du vier warst oder gestern oder so, denke ich laut. Und mit ganz ernstem, geradezu empörtem Zorn beschimpft mich das Kind: „Ich bin kein kleines Mädchen mehr!! Ich bin ein großes Mädchen!! Oder bin ich nicht fünf Jahre alt!?“ Doch, bist du.

Heute aber ist das Kind so selbstverständlich groß, dass es mir lässig über die Schulter zuruft „Ich geh’ mal eben zu Jo rüber!!“ Ich hole Luft, um wenigstens noch den Schein einer ungewissen väterlichen Autorität zu wahren in Form einer Ermahnung und eines Hinweises auf die Uhrzeiten, da wirft das Kind noch ein „Bin gegen sechs zurück!!“ hin. Und die Tür klappt zu.

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