Rainer Kolbe - Das Kind

 

215 Ich, dritte Person

Es ist Abend, ich singe den Ganzlütten in die Träume: „Schlaf, Kindchen, schlaf! Die Mama hüt’ die Schaf...“ Denn ist nicht die Mutter die Pastorin, die die Gemeindeschäfchen hütet? Und weiter „Der Papa schüttelt's Bäumelein...“ Denn bin nicht ich es, der hier singt und das Kindchen mit Liebkosungen überschüttet, während die Mutter draußen bei der Herde ist? „Wo ist Mama?“ „Die hat Kirchenvorstandssitzung.“

Rätselhafterweise hängt der Ganzlütte an klassischen Rollenmustern und verlangt lautstark die korrekte Variante: der Papa hüt’, die Mama schüttelt’s. Schade. Wieder einer verloren. Wer soll mich als Vater und Hausmann dermaleinst beerben?

Es fing schon mit seinen ersten Sprachversuchen an. Er hockte auf meiner schmalen Hüfte, gehalten von meinem starken männlichen Arm, blickte mit seinen großen Kleinkindkulleraugen tief in meine freundlich-fragenden Vateraugen und formulierte sein erstes Wort: „Mama...“ Wo war da ich, als Papa? Das Blag drosch mir voller Begeisterung seine kleine Faust auf die Schulter und krähte: „Mama!!“

Irgendwann hat er’s ja begriffen, dass Mama und Papa zwei verschiedene Personen sind, die auseinander gehalten werden wollen, auch sprachlich. Mancher der Altvorderen hat aber umgekehrt noch lange nicht begriffen, dass ein einzelner Mensch durchaus aus verschiedenen Personen besteht.

Zu Besuch ist meine Großmutter. Wir essen Kuchen, trinken Kaffee, wir plaudern. Das Kind erzählt von einem Ausflug, und dort haben wir dieses oder jenes gemacht, erlebt, gestaltet, erklettert. Schaut mich die gute alte Frau an und fragt: „Kann Papa das denn?“ Wieso Papa, frage ich mich, ihr Vater ist doch schon seit Ewigkeiten tot? Dann dämmert es mir: die gute alte Frau meint MICH! Ich bin ihr Enkel, laufe aber offenbar unter dem Label „Papa“. Nun gut, die Frau ist neunzig Jahre alt, man mag es ihr nachsehen.

Beim Abendessen erläutert die Lieblingspastorin einige Dinge, da werde ich liebevoll betrachtet und sogar erwähnt: „Papa hat...“ Der Rest ihres Beitrags am Esstisch ist für den Rest meines Beitrags an dieser Stelle ohne Belang, aber wieder bin ich „Papa“. Nun gut, die Frau ist Ende dreißig...

Ich bin gerne Papa, und ich mag es, als Papa auch geschätzt zu werden. Aber ich schätze es auch, als Enkel geschätzt zu werden und als Gatte. Klar, gegenüber kleinen Kindern kann die Formulierung „Papa hat...“ sinnvoller sein als „mein Gatte hat...“. Aber bin ich immer „Papa“, egal ob mein Kinder, meine Frau, meine Mutter oder meine Großmutter von mir sprechen? Wo bleibe ich als Gatte, als Kind, als Enkel? Ich suche nach einem goldenen Mittelweg.

Als Kind habe ich immer „Papa“ und „Mama“ zu meinen Eltern gesagt. Manche Schulfreunde sagten zu ihren Eltern „Erich“ und „Inge“. „Inge, kannst du mir bitte bei den Hausaufgaben helfen?“ klang weniger nach Familie und mehr nach Nachhilfe-Unterricht, sieben Mark fünfzig die Stunde. Vielleicht war es auch gar nicht sehr familiär-vertraut in nämlichen Familien?! Ich suche weiter nach dem goldenen Mittelweg.

Es geht natürlich noch schlimmer. Noch schlimmer ist „der Papa“, dritte Person Singular, also die süddeutsche Variante, die noch einen bestimmten Artikel hinzufügt. „Heute bringt dich der Papa ins Bett“. Welcher Papa? Ich dreh mich um: Der da? Oder der da? Nein, ich selbst bin gemeint! Noch besser ist natürlich: „der Gatte“, die dritte Person der Partnerschaft. Och nööö...

Neulich Abend aber ertappte ich mich dabei, wie ich halblaut dem Hund ein beruhigendes „Papa kommt ja schon mit dem Futter“ entgegenmurmelte. Und erschrak sehr! So degradiere ich mich selbst!

Schluss damit! Ich habe den goldenen Mittelweg gefunden: Ab heute muss mich der Hund siezen!

laden
start