Rainer Kolbe - Das Kind

 

216 Ich, im Kinderheim

Neulich, beim Räumen, fand ich das alte Fotoalbum, aus dem auch das Bild war, mit dem ich Sie in der letzten Woche behelligt habe. Da war ich noch kernig und rundum gesund, hellwach an der Seite meines dösenden Vaters.

Spannender als die alten Fotos war der Umschlag, der hinten im Album lag. Er enthielt die von meiner Mutter aufbewahrten Postkarten aus meiner Kinderheimzeit. Als Fünfjähriger war ich nämlich nicht mehr kernig und rundum gesund, sondern arg von Keuchen und Husten gebeutelt. Und wurde deshalb auf ärztlichen Rat an die See verfrachtet, auf die Insel Föhr und dort in ein Kinderheim. Zwangserholung.

An einiges erinnere ich mich, auch wenn ich keine fünf Jahre alt war: an die Hinreise etwa, die fand nämlich in einem winzig kleinen Flugzeug statt, das nur knapp über die Kirchtürme der Dörfer hinweg flog und Kühe in die Flucht trieb. Ich erinnere mich diffus an Strand und Sand, an Spiele mit Lego. Ich erinnere mich an zwei Geschenke zu meinem fünften Geburtstag, hier unter Fremden: an ein Spielzeugauto, Modell Oldtimer, und an einen dottergelben Langholztransporter. Gesichter aber habe ich keine vor Augen.

Die acht Karten waren geschrieben worden von der Heimleiterin und stellten so eine Art Wochenbericht dar. Telefonieren war teuer, was anderes gab es nicht. Die Karten sprechen von Erkrankungen, vom Wetter und vom Strand und sind denkbar knapp gehalten, der geringe Platz wird nicht immer ausgeschöpft. Einiges erscheint mir heute sehr bemerkenswert: Alle Karten sind adressiert an „Herrn und Frau L.“, reden aber ausschließlich meine Mutter an. Und noch auf der fünften Karte wird mein Vorname falsch geschrieben. Zwei Karten sind „von mir geschrieben“, die Karten tun so, als zitierten sie mich. Aber die Sprache ist erkennbar nicht die eines kleinen Kindes. Und auch diese von mir „selbst verfassten“ Karten beginnen mit „Liebe Mami“ und lassen „den Papi“ nur grüßen.

Besonders getroffen aber hat mich die Lektüre gleich der erste Karte: „... am ersten Tag malte er immer + sagte dann leise: Nun ists schon 1 Tag weniger!“

Ich glaube nicht, dass meine Eltern mich damals weniger geliebt haben als ich meine Kinder heute liebe. Die kommunikativen Möglichkeiten waren andere als heute, vielleicht war auch der Glauben an die Weisheit der Ärzte größer als heute. Und ich weiß sehr wohl, dass meine Eltern mich vor der ursprünglich vereinbarten und ärztlicherseits empfohlenen Zeit abgeholt haben, weil mein Vater (!) es nicht mehr ausgehalten hat ohne mich. An das große Glücksgefühl des Tages, an dem ich – überraschend! – abgeholt wurde, erinnere ich mich noch heute gut. Welch’ Heimweh muss ich gehabt haben!

Nun fragen Sie völlig zurecht, was das alles mit dem Kind zu tun hat, von dem diese Kolumne eigentlich handelt?

Nun, ich stelle mir vor, es gäbe Gründe, dass mein Kind für Wochen und Monate allein unter Fremden wäre, der Gesundheit wegen. Doch völlig undenkbar, nur eine dürre Karte pro Woche zu bekommen! Undenkbar auch, dass ich nach einer solchen ersten Karte – „nun ists schon 1 Tag weniger!“ – nicht mit Tränen in den Augen nach dem Autoschlüssel greifen würde. Undenkbar, dass ich einer Heimleiterin, die auch nach fünf Wochen den Namen meines Kindes falsch schreibt, nicht die Kompetenz absprechen würde, für eben dieses Kind aufmerksam und zugewandt sorgen zu können.

Damals, Anfang der Siebziger, hielt man das alles wohl für richtig oder unvermeidlich. Meine Mutter hatte daheim noch einen Säugling zu betüdeln. Und dass mein Vater eine Auszeit nimmt zur Pflege des kränklichen Wurms und mit mir zur „Vater-Kind-Kur“ an die See fährt?

Undenkbar. Damals.

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