Rainer Kolbe - Das Kind

 

217 Kein Foto, nirgends

Das Kind ist begeistert, wenn ich mit ihm in meinem alten Fotoalbum blättere, knisternde Seidenpapierseiten wende und die Ahnen erläutere. Dabei spielt es für das Kind überhaupt keine Rolle, dass es die meisten Menschen nicht kennt, die Farben der Fotos mehr als schwächeln und jedes zweite Bild unscharf ist.

Für das Kind wird eine Verbindung geschaffen zur Vergangenheit. Die alten Fotos sind heute identitätsbildend. Woher komme ich? Wie lebten die Eltern, die Großeltern früher? Wieso tragen die Leute auf den Bildern so komische Klamotten? Wer gehörte zu meiner Oma, als sie selbst noch ein kleines Kind war. Das Fotoalbum zeigt’s.

Im Album blättern – der Computer kann das nicht. Klar, wir können am Bildschirm eine Art Diashow abspielen. Aber digitale Bilder sind nichts Greifbares, sind unwirkliche Schatten. Keine Bilder, nur Abbilder. Und gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen, unter eine dicke Decke gekuschelt, in einem alten Album blätternd – das ist doch etwas ganz anderes! „Und wer ist das?“ „Das ist Tante Friedel, die Freundin meiner Urgroßmutter. Die ist über hundert Jahre alt geworden!“ „HUNDERT Jahre??“ Und draußen heult der Februar ums Haus.

Nun sind wir sowieso keine großen Fotografen. Szenen, Gerüche, Gelächter. Der Tanz der Glühwürmchen in der Nacht von Mantova. Ein schwerer Sturm an der Nordseeküste. Das Gefühl, auf einem sehr hohen Berg zu stehen. Die Überfahrt nach Venedig. Ich greife lieber nach der Hand meiner Angetrauten, nicht nach der Kamera, sei sie analog oder digital.

Ich verstaue mein Fotoalbum wieder im Schrank, setze mich auf unser Sofa und greife nach einer herrenlosen Zeitung. Ein Beitrag im Feuilleton springt mich an, ausführlich ist die Rede von alten Fotoalben, der Kunst des analogen Fotografierens und der Vergänglichkeit aller digitaler Welten. „Mumpitz“, denke ich und weiß die Familienfotos auf der Festplatte meines Computers gut gesichert.

Denn selbstverständlich nutze ich den Vorteil der digitalen Fotografie, in einer Situation zehn oder fünfzehn Bilder machen zu können. Eines davon ist bestimmt gelungen. Während man früher oft nur Zeit und Geld hatte für ein oder zwei Bilder, macht man heute zehn oder zwanzig. Und dann schiebt man die Bilder mit der Maus komplett von der Kamera auf die Festplatte und vergisst natürlich, die neun oder vierzehn weniger gelungenen zu löschen. Masse statt Klasse.

Wir fotografieren nicht sehr viel, ich erwähnte es bereits. Gut, einige Bildchen werden im Laufe der Zeit wohl zusammen gekommen sein. Auf der Festplatte meines Computers gibt es ein Verzeichnis mit dem vielsagenden Namen „Zwischenablage“. Irgendwann (!), so mein Plan, wenn ich mal ein wenig (!) Zeit habe, werde ich diese Fotos sortieren, mit Namen und Daten versehen und alle misslungenen löschen.

Im oben erwähnten Feuilleton lese ich: „Viele Menschen sitzen auf einem digitalen Durcheinander, das sie sich vornehmen, irgendwann einmal zu ordnen.“ Ich fühle mich ertappt – und mache einen Fehler: Ich lasse den Computer das Verzeichnis „Zwischenablage“ zählen. Es enthält in 64 virtuelle Ordnern und Unterordnern mehr als zweieinhalb Tausend digitalen Bildern! Dabei, wie gesagt, fotografieren wir gar nicht so viel... Wie und wann bloß soll ich das jemals sortieren und mit Namen und Daten versehen?!

Heute, Anfang Februar, fasse ich meinen ersten guten Vorsatz für das ja immer noch recht junge Jahr: Ich werde alle 64 Ordner und Unterordner durchforsten, die Fotos sortiere und aussortieren, sodann die besten ausdrucken lassen auf echtem Fotopapier und daraus ein ganz klassisches Fotoalbum erstellen. Für mein Kind.

Na ja, und für mich auch.

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