Rainer Kolbe - Das Kind

 

218 Ein Blick in die Zukunft

Wir sind nicht diejenigen, die viel mit der Zukunft am Hut haben und heute schon genau wissen, was morgen geschieht, oder gar weit reichende Pläne machen. Es gibt ja Menschen, die hocken am warmen Ofen, Laptop auf den Knien, und buchen den Sommerurlaub auf den Malediven, während draußen der Februarsturm ums Haus heult. Brrrr.

Wir sind Last-Minute-Reisende. Beleibe nicht aus Geiz, sondern weil wir nicht so weit in die Zukunft blicken können! Denn wir wissen nicht, wie das Wetter morgen sein wird und ob wir selbst morgen sein werden. „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?“ Und im Gegensatz zu sehr sehr vielen Menschen auf dieser Welt befinden wir uns in der glücklichen Lage ungefähr zu wissen, was wir morgen essen und trinken und womit wir uns kleiden werden. „Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ Also sind wir erstmal dankbar für das Heute.

Doch weil es uns gut geht, leisten wir uns den Luxus ein wenig mehr zu wollen als essen und trinken und uns kleiden – wir wollen auch zum Beispiel reisen, zum Beispiel im Sommer.

Fährt man aufs Geratewohl Richtung Schweden, so geht das durchaus ohne Vorbuchung, wenn man ein Zelt dabei hat. Will man aber mit fünf bis acht Leuten drei Wochen in einem dieser hübschen rot gestrichenen Sommerhäuschen an einem schönen mittelgroßen See verbringen, so sollte man sich vielleicht etwas eher als erst beim Beladen des Autos über das Ziel der Reise Gedanken machen.

Also wollen wir dieses Jahr über unseren Schatten springen, alte Gewohnheiten außer Kraft setzen und unseren Urlaub endlich einmal richtig früh zu planen. Wir ziehen uns warm an und treten hinaus in den Februarsturm, überqueren die Straße und schlüpfen ins kleine warme Dorfreisebüro. Dort holen wir uns einen Hütten-und-Häuschen-in-Skandinavien-Katalog, wobei wir geflissentlich überhören, dass die freundliche Dame ein „eigentlich schon ein bisschen spät...“ murmelt.

Wieder daheim wärmen wir uns am Ofen auf, kuscheln uns auf dem Sofa in die richtige Position und nehmen den Katalog zur Hand. Der hat knapp über 700 Seiten. Auf jeder Seite sind im Schnitt sechs bis sieben Hütten, Häuschen, Häuser und Paläste abgebildet. Gut, Häuser und Paläste scheiden gleich aus, die Preise stehen dabei, und für manche „Häuschen“ wird so viel Geld pro Woche verlangt wie wir für drei Wochen eingeplant haben, und zwar inklusive Brückenmaut.

Aber Luxus wollen wir ohnehin nicht, wir wollen es gerne „mit ohne“. Mit ganz viel ohne. Also einfach. Einfach leben. Aber wie findet man nur das passende Häuschen aus grob überschlagen 4200 Angebote mit winzig kleinen Bildchen und winzig kleinen Beschreibungen heraus? Und kann man das glauben, was da im Katalog steht? Und ist das schmucke Häuschen nicht vielleicht doch am Rande eines Industriegebiets gelegen? Und wäre dieses hier oder jenes nicht noch viel besser und schmucker? Ist der See auf diesem oder jenem Bild nicht blauer? Und und und. Und wieso kann man nicht einfach hinfahren und sich vor Ort entscheiden?

Ich fühle mich an den vorletzten Augenarztbesuch erinnert: So besser? Oder so? Oder so? Oder so? Irgendwann ist ALLES unscharf.

Es dauert Stunden. Aber dann haben wir „unser“ Häuschen gefunden: Ganz viel ohne! Kein Strom, kein fließendes Wasser. Bestimmt mit Mückengarantie, aber das stand nicht dabei. Das Kind ist umgehend begeistert von den kleinen Bildchen und redet schon von nichts anderem mehr.

Und in einem halben Jahr werde ich Ihnen berichten, wie es dann wirklich war mit den Mücken und dem Industriegebiet.

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