Rainer Kolbe - Das Kind

 

221 Die Sicht der Dinge

Kinder sind natürlich die Größten, und zugleich sind sie auch die Kleinen. Die Größe der Kinder und der Rest der Welt passen nicht immer zusammen, und allzu leicht verlieren wir die Kinder, die Kleinen und das Kleine aus dem Blick.

Umgekehrt erschrecken wir, wenn uns bewusst wird, wie groß unser eben noch so kleines Kind geworden ist! Kinder wachsen – und wie!! So war das Ausräumen der Spülmaschine eine eher gedankenlose Beschäftigung: Teller nehmen, Tür des Küchenoberschrankes aufreißen, Teller reinstellen. Bis neulich.

Da bemerkte ich im letzten Moment, dass mein just vorbeigehende großes Kind eine Scheitelhöhe erreicht hat, die gerade eben nicht mehr zusammengeht mit der unteren Kante des Küchenoberschranks!

Während ich nun beim Ausräumen der Spülmaschine auf Passanten achte, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie das Kind in meinem Arbeitszimmer verschwindet und wenig später mit der kleinen Kamera wieder auftaucht. „Ich möchte unser Haus fotografieren!“, sagt es. Ich frage höflich, warum es das denn wolle. „Nur so!!“ Will das Kind einzelne brauchbare Gegenstände bei Ebay verticken und benötigt dafür Fotos? Will es Beweise sichern für später mal, wenn es anderen Menschen schildert, in was für schwierigen Verhältnissen es aufwachsen musste, die alles Weitere erklären? Oder ist’s ein neues Spiel auf dem Schulhof: „Zeig mir mal, wie schrecklich es bei euch zuhause aussieht?!“

Glücklicherweise hat das Kind keinen eigenen Computer. Bevor die Fotos Unheil in der Welt anrichten, müssen sie von mir und meinen Computer gesichtet werden. Und so schleiche ich mich spät in der Nacht, als das Kind längst fest schläft, in sein Zimmer, um – leise, leise – die kleine Kamera zu suchen. Schon nach einer Viertelstunde finde ich sie in der Kiste mit den Spielzeugpferden. Hätte ich auch gleich darauf kommen können!

Dann stöpsele ich die Kamera an meinen Computer, ziehe die Bilder vom Chip und starte die Diashow. Was ich zu sehen bekomme, ist der unverstellte Blick meines Kindes auf seine, auf unsere Welt. So also sieht das Kind!

Auf dem ersten Bild sehe ich mich selbst, das Kind hat mich am Schreibtisch fotografiert. Leider im Profil. Ich wusste nicht, dass ich ein so ausgeprägt fliehendes Kinn habe. Mmmh.

Dann folgen ein Stück von einem Bücherregal, ein Schlüsselloch in Nahaufnahme, der Blick von oben in einen Kaffeebecher mit einer Pfütze restlichen Kaffees darin. Eine Steckdose. Der Schiebewagen vom Ganzlütten. Des Kindes Füße, von oben fotografiert. Eine einzelne Treppenstufe. Der Schulranzen, die Hausschühchen vom Ganzlütten, ein Stück von der Küchentür. Ein Bild ist gänzlich hellgrau und erschließt sich mir lange nicht. Dann komme ich drauf, es ist Linoleum. Mützen, Jacken, der Blick durch die Glastür in einen anderen Raum.

Dann draußen: Hausecken, Garagenecken, Heckenecken. Unsere Haustür, eine zerbrochene Blumenschale, eine Pfütze, ein Kellerfenster. Eine Rohrleitung, die aus der Hauswand kommt und im Boden verschwindet.

Ich überlege, was diese Bilder gemein haben. Auf fast allen Bildern sind Kleinigkeiten zu sehen. Das Kind hat lauter Details eingefangen, Alltagsgegenstände, Selbstverständlichkeiten.

Dinge, die uns umgeben, für die wir aber meistens keinen genauen Blick haben. Ich habe noch nie unsere Treppenstufen aus der Nähe besehen. Vielleicht findet das Kind Treppenstufen an sich interessant, vielleicht war es auch eine Idee des Moments. Es waren die kleinen Dinge, die ihm wichtig erschienen. Es hätte auch ganze Zimmer fotografieren können und draußen das ganze Haus. Stattdessen: Kaffeebecher, Steckdosen, Mützen, eine zerbrochene Schale, ein Rohr.

Nachdenklich gehe ich schlafen.

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