Rainer Kolbe - Das Kind

 

223 Die souveräne Tat

Dann bin ich ein bisschen krank geworden. Nur ein bisschen, natürlich. Erstens heißt es sonst, Männer seien wehleidig. Und zweitens ist mehr als ein Bisschen im Alltag kaum zu schaffen: Einer muss den Laden ja am Laufen halten. Jeder, der wie ich Hausfrau und Mutter ist, kennt das: Sind die Kleinen krank, kümmert man sich. Ist der Ernährer krank, kümmert man sich auch. Und ist der Ernährer gesund, ist er weg zum Ernährungverdienen, und dann kümmert man sich wieder um die Kinder. Ist ja sonst keiner da. Wann darf ich denn mal krank sein?

Dabei war es unvermeidlich. Erst war das große Kind eine gute Woche lang krank und dämmerte fiebernd und schniefend auf dem Sofa, dann war der Ganzlütte eine gute Woche krank und tobte fiebernd und schniefend auf dem Sofa. Dann war die Lieblingspastorin eine gute Woche lang krank – und ich?

Als alle wieder gesund waren, durfte ich auch. Samstagabend fing es an, mir war kalt, ich hustete ein wenig – mehr traute ich mich gar nicht, denn die Lieblingspastorin hatte für den Sonntag einen Konfirmandentag angesetzt und sollte von morgens bis abends weg sein.

Nun geht es hier ja nicht um mich und meine Wehleidigkeit, sondern um das Kind. Und das Kind überraschte mich einmal mehr. Denn war es nicht eher so, dass das Kind – beispielsweise – der liebevoll väterlich vorgebrachten Bitte, doch mal eben den Müll raus zu tragen, standardmäßig mit einem genervten „Oh nee, muss das sein??“ beantwortet?

Nun aber verschwand die Lieblingspastorin Richtung Kirche, ich lag ermattet auf dem Sofa – und das Kind sorgte rührend: kochte ganz alleine einen guten Kaffee, deckte den Tisch und fütterte die Meerschweinchen ohne Erinnerung noch Mahnung. Ich sollte öfter so ein kleines bisschen krank sein... Ja, selbst der Ganzlütte hüpfte etwas weniger und leiser durch die Gegend, kam zu mir und streichelte ganz sanft mein Gesicht: „Bissu jezz wieda gesuhund??“

Ich rappelte mich auf, denn da war ja auch noch ein alter Hund, der vor die Tür musste. Und eine Achtjährige, einen Zweijährigen und eine ungefähr Fünfundachtzigjährige wollte ich dann doch lieber nicht alleine um den Ententeich spazieren lassen.

Das Kind zog sich und den kleinen Bruder an, ich streifte einen zusätzlichen Pullover über und wir traten vor die Tür. Leise röchelnd und etwas mühsam schleppte ich mich mit den Dreien um den Block, der Ganzlütte hat sein „Rauflad“ dabei, am Ortsrand klettern alle drei auf einem hohen Knick herum und ich lehne fröstelnd an einer Birke. Irgendwann stellte ich fest, dass frische Luft gar nicht so schlecht ist. Wieder zuhause hat das Kind dann noch einen Kaffee gekocht und mit dem kleinen Bruder ganz geduldig ein Bilderbuch nach dem anderen angesehen.

Nun ist es ja nicht so, dass ich meinem Kind kein soziales Engagement zugetraut hätte. Die große Selbstverständlichkeit und auch Souveränität, mit der es das tat, was gerade notwendig war, überraschte mich ein wenig, sie war neu. Offenbar greift das Kind zur Tat, wenn Not ist und nicht, wenn nur profane Bitten geäußert werden?! Gibt es etwas Notwendigeres in unserer Welt als Menschen, die zur Tat greifen, wenn Not ist?

Doch es kommt noch besser. Denn die gute Tat an sich ist, es zeigt sich wieder, auch ansteckend. Seit Neustem räumt der Ganzlütte den Esstisch mit ab, balanciert den Wurstteller durch die Küche und ein leeres Trinkglas nach dem nächsten. Ein Stückchen Weichkäse fällt runter, aber alles andere landet heil auf der Anrichte, von wo ich die eine Hälfte in der Spülmaschine und die andere Hälfte im Kühlschrank unterbringe. Der Ganzlütte strahlt vor Stolz.

Und über das Stückchen Weichkäse hat sich der Hund sehr gefreut.

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