Rainer Kolbe - Das Kind

 

224 Nicht so schnell!

Vormittag blinkt die Sonne klar vom blauen Himmel, ein wunderbarer Tag. Also plane ich für den Nachmittag einen Ausflug mit den Rädern. Bewegung soll gesund sein, und ganz in der Nähe unseres Dorfes ist der höchste Berg Nordfrieslands zu finden! Noch höher als der Deich bei Husum, volle 53 Meter über Normalnull!

Nach der so genannten Mittagspause werfen wir Proviant in den Fahrradkorb, ich prüfe den Luftdruck bei meinem Rad, beim Rad des Kindes, beim Anhänger an meinem Rad und am „Rauflad“ – und los geht’s.

Was dynamischer klingt als es ist. Denn auch wenn der Ganzlütte auf seinem Rauflad einen normalen erwachsenen Fußgänger zu zügigem Gehen zwingt, zumal die nächste Straßeneinmündung etwas unübersichtlich ist, so langsam ist er, wenn der Erwachsene selbst auf einem Fahrrad sitzt. Kurz: Das Kind und ich bemühen uns redlich und geduldig, trotz extrem verlangsamter Fahrt mit unseren Rädern nicht umzukippen, während der Ganzlütte durch die frühlingshaft kahle Landschaft gondelt und gelegentlich auch noch abspringt, um ein mickriges Blümchen am Wegesrand zu betrachten. Die Sonne verschwindet hinter Wolken, der Märzwind frischt auf. Zwar hatte ich an Mütze und Handschuhe gedacht; Thermounterwäsche wäre auch gut gewesen. Kannst du ein wenig schneller fahren, bitte?!

Mein großes Kind bemüht sich geduldig, den Ganzlütten von den Vorzügen des Fahrradanhängers zu überzeugen: Er könne bequem sitzen und man komme schneller an den Ort, an dem es ein Picknick geben werde. Und – schon etwas weniger geduldig – wenn er unbedingt selbst fahren wolle: Ob er nicht ein wenig schneller fahren könne?!

Die Älteren der Familie, in diesem Fall also ich, können sich natürlich noch gut an die Zeit erinnern, in denen das Kind selbst das Tempo diktierte. Ist ja auch erst einige Jahre her. Bitte ein wenig schneller, ja?! Eine Runde im Dorfpark in weniger als neunzig Minuten war damals ein echter Erfolg. Aber heute meckern...

Zwei Spaziergänger überholen uns. Wohlgemerkt: Wir fuhren!

Zweihundertfünfzig Meter vor unserem Ziel, dem höchsten Berg Nordfrieslands, steigt der Ganzlütte vom Rauflad und will jetzt unbedingt in den Hänger. Nun gut... Eine Minute später erreichen wir den, nun ja, Berg, lehnen die Räder an eine schüttere Tanne, erklimmen Hügel samt steinzeitlichem Grab und genießen die Aussicht.

Genießen dann auch unser Picknick, worauf ich die Kinder über den Hügel scheuche, dass sie freudig in Gottes Natur spielen und ich müßig meinen Gedanken anhängen kann. Leider wird mir beim Denken gleich wieder kalt. Besser wäre es, weniger zu denken und mich selbst ebenfalls über den Hügel zu scheuchen! Doch man ist ja nicht umsonst ein ernsthafter Erwachsener.

Also blase ich bald wieder zum Aufbruch. Der Ganzlütte lässt sich bereitwillig in den Anhänger setzen, nicht ohne mir noch einen gut zwei Meter langen Ast in den Arm zu drücken, der unbedingt mit nach Hause müsse und der aus meinem Rad plus Anhänger plus oben drauf geschnalltem Rauflad plus Stock einen Schwertransport mit Überbreite macht, „Kann nicht überholt werden!“

Der Rückweg ist deutlich länger, was die Entfernung betrifft, da wir einen Schlenker über Felder und Weiler machten, und deutlich kürzer, was die gefühlte Zeit angeht; auch wird mir bald wieder warm. Der Ganzlütte hockt im Anhänger und schläft selig, und das große Kind kann endlich frei und flott und zügig und geradezu rücksichtslos vor mir her strampeln. „Papa, schneller!!“ Ja, mein Schatz, du musst ja auch keinen schweren Anhänger plus Kleinkind plus Rauflad plus großem Ast abschleppen.

„Papa, dahinten sind Pferde!!“ Und saust los. Nicht so schnell...

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