Rainer Kolbe - Das Kind

 

225 Hitchcock in Husum

Erstaunlicherweise war am Sonntag ein wenig Zeit – das Wetter war aber auch einfach zu schön: Knallblauer Himmel, strahlender Sonnenschein und Temperaturen, die um fast zwei Grad höher lagen als der Durchschnitt der letzten Wochen.

Nun muss man wissen, dass wir seit sechs Jahren in Nordfriesland und in gemäßigter Entfernung von Husum wohnen, von der grauen Stadt am grauen Meer, die einmal im Jahr zur violetten Stadt am grauen Meer wird. Doch trotz dieser Nähe hatten wir es bis zu diesem Tage nie geschafft, dem jährlichen Krokusblütenfest im Husumer Schlosspark unsere Aufwartung zu machen. Entweder war überhaupt gar keine Zeit oder ein Kind war krank oder beide oder das Wetter war grau und keineswegs violett. Dieses Jahr aber stimmte alles: Wetter, Gesundheit, Zeit.

Sonntag? Gutes Wetter? Es waren wohl mehr Menschen als Blumen zu erwarten?! Nun bin ich einer, der philantroph ist (außer manchmal!), sich aber trotzdem nicht zwingend in jede größere Menschenzusammenballung einreihen muss. Sprich: Können wir die Krokusse nicht am Montag besuchen? Dann sind zumindest Tausende auswärtiger Tagestouristen nicht auch noch alle um mich her!

Doch es sollte dieser Sonntag sein, Tag des Herrn: Denn siehe!, sind Krokusse nicht auch ein Teil der göttlichen Schöpfung? Ist nicht eine jede einzelne Blume in ihrer Pracht ein Loblied? Wie sollte das erst bei einem Meer von Blumen klingen?

In der Tat, es war beeindruckend: Tausenden von Menschen, Hunderte von Blumen! Doch nicht nur das violette Meer der Blumen war beeindruckend, auch Buden und Spielplätze schlugen uns in Bann: Pommes, Fischbrötchen, frische Kartoffelchips und zum Nachtisch, oh Graus!, Zuckerwatte – das gesamte Programm gesunder Ernährung, wie es in dieser Reinheit nur noch auf Volksfesten feil geboten wird.

Gefühlt die Hälfte des Nachmittags verbrachten wir dann auf dem Spielplatz neben der Mauer des Schlosses: Das Kind schweinebaumelnd am Hochreck, nach links und rechts plaudernd, der Ganzlütte in der Sandkiste mit einer beim Nachbarn geklauten Schaufel. Wir Eltern aber standen am Rand, leicht fröstelnd trotz des Sonnenscheins. Immerhin hatten wir Muße, unsere Mitmenschen zu beobachten. Wie viele Menschen sich dem Krokusblütenfest entsprechend gekleidet hatten! Violette Schals und violette Mützen und violette Jacken und violette Schuhe und violette Dessous. Fiel schon auf.

Leider fiel dann auch der Ganzlütte auf, der uns entwischte und quer über eine der großen violetten Blumenwiesen stapfte. Die paar geknickten Stängel fallen im violetten Meer natürlich gar nicht auf. Allerdings konnten wir nur am Rand stehen und ihn höflich lauthals bitten umzukehren. Ich konnte ja nicht auch in die Blumen steigen! Erstens wären meinen großen Füßen wohl mehr als nur ein paar mehr Stängel zum Opfer gefallen. Und zweitens hätte er das als willkommenes Spiel interpretiert und wäre begeistert losgerannt: „Fang mich doch! Fang mich doch!“

So standen wir am Rand und baten, während die Umstehenden – wie immer – unentschieden waren, die Palette reichte vom empörten „Unerhört! Gönnen ’S nich’ aufpasse’?“ bis zum belustigten „Tja, ist uns auch mal passiert, mal sehen, wie ihr da jetzt rauskommt!“ Bevor ich meinem großen Kind die kleine Kamera entwinden konnte, kam der Ganzlütte schon zurück. Hat er sich so ganz allein auf weiter Flur vielleicht doch gefürchtet? Fand er es bedenkenswert, dass keiner ihn zu fangen suchte? Oder hatten ihn die schimpfenden Krähen in des Schlossparks Bäumen an Hitchcocks „Vögel“ erinnert?

Das Kind aber hat die Zeit sinnvoll genutzt und einige sehr schöne Fotos gemacht (natürlich auch wieder zahlreiche Detailaufnahmen). Für uns und als Erinnerung an einen Sonntag!

laden
start