Rainer Kolbe - Das Kind

 

226 Die zweite Lesung

Die erste war in Flensburg gewesen, damals, Burkhard Spinnen war zu Gast und wollte aus seinem neuen Buch lesen. Er sah nicht sehr begeistert aus, als wir einen Kinderwagen in die abendliche Buchhandlung schoben und beherzt im Publikum parkten. Wir aber wussten: Das Kind würde gleich schlafen. War ja die Zeit dafür. War ja auch Zeit für uns nach den ersten Babymonaten, mal wieder „in Kultur“ zu machen. Da war unsere Wahl auf eine Lesung gefallen, des Kindes erste Lesung. Man kann nicht früh genug anfangen.

Leider schlief das Kind gar nicht, begann vielmehr zu plaudern, angeregt vom Geplauder des erwartungsfrohen Publikums unmittelbar vor Beginn der Lesung. Der Künstler runzelte hörbar die Stirn, die Lieblingspastorin seufzte, und da ich noch viel lieber zu dieser Lesung hatte gehen wollen und sie mich zudem liebte, parkte sie den Kinderwagen wieder aus und machte sich auf in den Nieselregen, während ich den Worten des nun glücklich entspannten Schriftstellers lauschen durfte. Zum Dank habe ich hinterher sein Buch gekauft und mir signieren lassen.

Nun aber, rund acht Jahre später, dachte ich, es sei vielleicht an der Zeit, einen neuerlichen Versuch zu wagen, dem Kind gute Literatur nahe zu bringen, präsentiert vom Verfasser selbst. Da bot sich die Lesung eines Schweizer Autors von Kinder-Detektiv-Rätsel-Bild-Geschichten an, also von Jürg Obrist. Ich selbst fand in jüngeren Jahren großen Gefallen an den „Abenteuern der Schwarzen Hand“ von Hans-Jürgen Press und der Reihe „Wer knackt die Nuss?“ von Wolfgang Ecke. Vielleicht hatte ich diese kleine Leidenschaft vererbt?

Wir stiegen in einer nahe gelegenen Großstadt aus der Untergrundbahn – „Das heißt hier ‚Hochbahn’, Papa!!“ – und erklommen die Stufen hinauf zum Frühlingslicht, aber dann war das Kind doch einigermaßen aufgeregt und griff schüchtern nach meiner Hand. Die Hochbahn, die großen Häuser, die vielen, vielen Menschen. Und wie die Lesung wohl sei und wie viele Kinder da kommen würden und ob es etwas sagen müsse und und und. Ich dachte bei mir: Dorfkind...

Der Künstler aber war einnehmend, hatte einen lustigen Akzent und malte auf einen großen Bogen Papier die Helden seiner Geschichte, Detektiv und Detektivin. Und „zack!“ rief mein Kind laut: „Du hast die Ohrringe vergessen!!“, denn es hatte die Heldin auf dem Cover des ausliegenden Buches längst gesehen. Das Kind hatte recht, musste der Künstler zugeben: Genaue Beobachtung ist ja das Wichtigste bei Detektivgeschichten.

Fortan war das Kind nicht zu bremsen, rätselte eifrig gemeinsam mit den anderen Kindern, entdeckte auf allen Bilder Indizien und sicherte in allen Texten Beweise – so ganz unschüchtern, als ob es jede Woche in der großen Stadt und auf einer Lesung sei. Mindestens jede Woche.

Am Ausgang scharwenzelte das Kind ein wenig herum, ich tat ahnungslos und kaufte ihm dann doch das Buch: Voller Eifer kehrte es in den Saal zurück und ließ es sich vom Autor signieren.

Auf dem Rückweg zur unterirdischen Station der Hochbahn sagte ich, dass es ganz schön gewesen sei, aber auch schade, dass nur so wenige Kinder dagewesen seien. „Das war gut!!“, sagte das Kind. So sei es doch viel öfter drangekommen beim Raten! Und kaum saßen wir in der Bahn, nahm das Kind sich die nächste Rätselgeschichte vor. Ich aber war sehr stolz: Meine Gene!

An diesem Abend gab es statt einer Gute-Nacht-Geschichte gab ein Gute-Nacht-Rätsel, und nach dem Gute-Nacht-Kuss aber bin ich gleich auf den Dachboden, die Kiste suchen mit meinen Jugendbüchern. Da waren sie, die „Abenteuer der Schwarzen Hand“. An dem Abend habe ich sie gleich noch einmal gelesen. Und – gelernt ist gelernt – alle Rätsel gelöst!

laden
start