Rainer Kolbe - Das Kind

 

228 Das Waveboard

Zu Weinachten lag ja das heiß ersehnte Waveboard unter dem Baum. Für diejenigen, die das Erlebnis noch vor sich haben: Ein Waveboard sieht auf den ersten und flüchtigen Blick aus wie ein Skateboard (ich kann jetzt nicht alles erklären!). Auf den zweiten Blick erkennt man, dass es offenbar ein in der Mitte gebrochenes Skateboard ist, dessen beiden Teile mit einer dicken Achse verbunden wurden. Unter dem vorderen und dem hinteren Teil ist jeweils ein einzelnes Rad – das Ding kippt also immer um. Nun ist es physikalisch möglich, durch geschickte Fuß- und Bein- und Hüftbewegungen sich selbst auf dem Brett zu halten und es zugleich vorwärts zu treiben. Jedenfalls ist das möglich, wenn man eine gewisse Übung darin erlangt hat. Mit dem Wort „Übung“ ist das Problem grob umrissen.

Das Kind war also weihnachtlich glücklich, drehte ein paar Runden im Gemeindesaal, sich von Stuhl zu Stuhl hangelnd, einige Male an den Kanten der Tische und einmal am Klavier entlang schrammend. Es fiel und stieg wieder auf und erkannte alsbald: Der Gemeindesaal ist viel zu klein! Draußen auf der Straße lagen allerdings einige Meter Schnee, und zwar nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. So geriet das Waveboard nach den Feiertagen vorerst ein wenig in Vergessenheit.

Nun aber war der Frühling da, Narzissen, vom Eise befreit, blaues Band: Die Straße lockte. Das Kind zerrte sein Waveboard aus der Kammer, setzte den Helm auf, schnallte sich diverse Knie-, Ellenbogen- und Handschützer um und betrat den Hof. Es umarmte die nächste Straßenlaterne, bestieg das Waveboard, wackelte etwas mit den Hüften und krachte aufs Pflaster. „Oh Mann!!“ Das Kind bestieg das Waveboard und rutschte Arm in Arm mit der Laterne an derselben zu Boden. Nach weiteren vier Versuchen – einer führte immerhin fünf Meter weit – fing das Kind an zu fluchen auf eine gotteslästerliche Art, die es von mir nicht hat und von der Lieblingspastorin sicher auch nicht. Ich erläuterte kurz, was es bedeutet, wenn man geduldig etwas wieder und wieder üben müsse (klang sehr oberschlau, flüchtig dachte ich dabei an meine Klarinette), aber Geduld ist natürlich etwas, mit dem man einer Achtjährigen nicht alle Tage kommen darf.

Das Kind startete unter Tränen und Flüchen weitere Versuche. Und stürzte. Versuche, Tränen, Stürze ohne Ende. „Es geht GAR nicht!! Blödes Ding!!“ Ich ging in den Schuppen, holte eine Säge und reichte sie dem Kind, denn für die Mülltonne ist das Waveboard schlicht zu groß, sofern es nicht in handliche Teile zerlegt wird. Das Kind bedachte mich mit einem Blick, der mir klar machte, dass es eher mich als sein Sportgerät zersägen würde, aber immerhin kam meine Botschaft an: Das Kind fluchte leiser, stürzte weniger theatralisch und kam weiter als je zuvor.

Irgendwann schaffte das Kind es unfallfrei und ohne einen einzigen Fluch bis zur nächsten Kreuzung. Ich würde ja auch nach hundert Versuchen keine fünf Meter weit kommen. Entsprechend stolz kehrte das Kind zurück. „Papa, war ich sehr gut??“

Ich erläuterte kurz, dass es nicht entscheidend sei, welcher Meinung ICH sei, sondern ob es selbst mit dem Erreichten zufrieden sei. Klang sehr oberschlau. Und ich überlegte, wann und wie oft ich mit meinem Tun an sich zufrieden bin und wann und wie oft ich zumindest insgeheim schon Wert darauf lege, dass andere mich und mein Tun toll finden, und beschloss, diesen Gedanken sicherheitshalber zu vertagen.

Da kam ein fremdes Mädchen die Straße entlang gefahren – auf einem Waveboard. Sehr virtuos, geradezu elegant, in gekonnten Wellen. Das Mädchen „wavete“ richtig cool. Der Blick meines Kindes verriet nichts. War diese Begegnung Ansporn oder Demütigung?

laden
start