Rainer Kolbe - Das Kind

 

229 Die Figurine

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer, kaue auf der Tastatur, bastel an einem Text. Ich höre das Kind nahen, plaudernd, singend, die Tür springt auf und knallt ans Regal. So wie das Kind allezeit naht, plaudert, singt und mit Türen wirft, sobald ich nur an meinem Schreibtisch sitze und arbeite. Zu arbeiten versuche. „Papa!! Kann ich mal deinen …“ Doch dann stockt das Kind, blickt an mir vorbei und fragt mit entgeisterter Stimme: „Warum hast du denn eine nackte Frau im Regal!?“

Das ist keine nackte Frau, das ist eine Figurine. Sehr treue Leserinnen und Leser dieser Kolumne erinnern sich gerne an Folge – na? hätten Sie es gewusst? richtig: an Folge eins! In Folge eins wurde berichtet von einem kleinen Kind und seiner hochbetagten Urgroßmutter. Und da tauchte diese Figurine das erste Mal auf:

Meine Großmutter, also die Urgroßmutter des Kindes, ist ohne Weiteres das, was ich eine würdige, ältere Dame nennen mag. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist liebevoll und ein wenig vergesslich. Wie es in ihrem Alter zu sein hat. Wage keiner, sie alt zu nennen, er würde mit scharfem Blick zurechtgewiesen. Der Altersunterschied zwischen ihr und ihrer Urenkelin beträgt schlappe 82 Jahre, den überbrücken beide spielend: Das Kind gibt der Fußbank einen Tritt, greift sich das Telefon, brüllt singend und der Urgroßmutter zu Ehren LAUDATO SI, OMI O SIGNOHOHORE in den Hörer und langt auf die Anrichte, „nein!, nicht die Figurine!!“ Und meine Großmutter ist ganz Dame, erhaben über alles, liebevoll ruht ihr Blick auf der Urenkelin.

Als ich selbst ein kleiner Junge war, fühlte ich mich wohl bei meiner Oma und war gerne zu Besuch. Sie war lieb und hatte Bonbons in der Schublade des wackeligen Küchentisches. Ihre Wohnung war fremd und zugleich vertraut, und es gab seltsam altertümliche Geräte, die ich von zuhause nicht kannte. In der guten Stube stand ein Palisanderschrank neben der ehrwürdigen Standuhr. Die gute Stube wurde eigentlich nur von uns Kindern genutzt: Bei Oma konnte man im Kreis laufen, Wohnzimmer und gute Stube waren mit einer stets offenen Schiebetür verbunden, und beide hatten den Zugang vom langen Altbauflur. Im Palisanderschrank waren Bücher und farbige Likörgläser, eine Kristallschale mit Deckel – und eine Figurine.

Das Wort „Figurine“ kommt aus dem Französischen und bezeichnet entweder eine Nebenfigur in einem Landschaftsgemälde oder eine Kostümzeichnung. Was bei meiner Oma im Schrank stand, war keine Kostümzeichnung. Vielmehr hatte die junge, schlanke Dame nicht nur kein Kostüm an, sie trug noch nicht einmal eine Unterhose und balancierte mit zum Himmel erhobenen Armen auf einer goldenen Kugel. Als kleiner Junge fand ich es schon seltsam genug, dass Oma hässliche bunte Gläser im Schrank hatte, die nie verwendet wurden. Noch seltsamer war natürlich diese nackte Frau.

Der Entwurf der Figur stammt von Karl Tutter, wie ich mittlerweile herausgefunden habe. Er lebte von 1883 bis 1969, war Bildhauer und Maler und arbeitete als Modelleur bei Hutschenreuther in Franken. Die Figur trägt den Titel „Sonnenkind“. Bei Ebay erzielte ein Exemplar gestern Abend 89,99 Euro. Ich recherchiere ein wenig rückwärts: In den letzten vierzehn Tagen wurde die Figur zehnmal verkauft, die Preise lagen zwischen 35,39 Euro und 122 Euro. Mit anderen Worten: Sie ist nicht viel wert.

Meine ist unbezahlbar. Vor einigen Wochen haben wir Oma und Uroma zu Grabe getragen, sie entschlief friedlich im Alter von neunzig Jahren. Die Figurine steht jetzt bei mir im Regal: als eine Erinnerung und als ein Zeichen der Dankbarkeit für ein langes, liebevolles und auch spitzbübisches Leben.

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