Das Kind |
Folge zweiundzwanzig Jedes
Kind hat sein Lieblingsstofftier, und niemand weiß, welche Aufgaben einem
solchen Wesen dermaleinst zugedacht sind – die Pläne des Herrn sind unergründlich.
Vielleicht wird es dieses Stofftier sein, das in einer fernen Zukunft dem Kind
über die erste sehnsuchtsvoll-vergebliche Liebe hinweghilft? Also trage ich
Verantwortung nicht nur für Kind und Hund, sondern auch für ein Stofftier
namens „Teddy“. Teddys
Wert steigt von Jahr zu Jahr. Man nennt diesen Wert
„Wiederbeschaffungswert“, er wird in Euro gemessen und lässt sich relativ
leicht berechnen. Sie kennen das Wort „Wiederbeschaffungswert“ von Ihrem
letzten Autounfall, als der lange Kerl in der Werkstatt so milde lächelte,
gleich nach der eindrucksvollen Begegnung Ihres Wagens mit einer Leitplanke. Bei
Eltern bezeichnet „Wiederbeschaffungswert“ nicht den Wert eines neuen,
vergleichbaren Stofftieres – wer wäre mit Teddy vergleichbar? Nein,
„Wiederbeschaffungswert“ ist der zeitliche und finanzielle Aufwand, der nötig
ist, den einzig wahren Teddy wieder ranzuschaffen, nachdem er irgendwo
liegengeblieben ist. Wo auch immer – die Wege des Teddys sind unergründlich. Meine
Frau hat als kleines Kind ihre Eltern über die Distanz von 150 Kilometer zu
„Bärle“ zurückgekreischt – Bärle gibt es übrigens heute noch, sein
Wert beträgt durch solche und ähnliche Aktionen mittlerweile mehr als fünftausend
Euro. Am
vorletzten Wochenende haben wir Freunde im Landkreis Angeln besucht, anderthalb
Stunden entfernt. Als wir auf dem Rückfahrt entdeckten, dass wir Teddy im
Schweinestall vergessen hatten, fiel uns der Weg zurück leicht, wir waren erst
gut fünfundzwanzig Kilometer weit gekommen. Bei einem Verbrauch von acht Litern
Normalbenzin auf hundert Kilometer stieg Teddys Wert bei dieser Aktion also um
rund fünf Euro, die Zeit jetzt einmal nicht in Wert gesetzt. Vor zwei Monaten
aber wäre Teddy in fünfundsiebzig Sekunden um zweihundertachtunddreißig Euro
wertvoller geworden, beinahe. Und das kam so: Wir
waren mit der Bahn auf dem Weg nach München. Im Bahnhof Hamburg-Altona war ein
wenig Zeit zwischen zwei Zügen, die wir bei Kaffee und Keks verbrachten und
auch im Zeitungsladen. Zeitungsläden in großen Bahnhöfen haben die lästige
Angewohnheit, ebenfalls groß zu sein, das Angebot ist vielfältig, auch das an
Kinderbüchern, das Kind also staunt, legt Teddy irgendwo hin, um beide Hände
frei zu haben zum Staunen – wenig später mussten wir dann zu unserem Zug... Fünfundsiebzig
Sekunden vor der Abfahrt vermisst das Kind seinen Teddy. Großer Bahnhof,
kleiner Teddy. Lautsprecherdurchsagen ertönen, ich hetzte zurück zum
Zeitungsladen. Teddy kann überall sein, wahllos renne ich in einen Gang, wieso
liegt Teddy bei den Herrenmagazinen?, egal, noch zwanzig Sekunden, ich schnappe
das Vieh und stürme zum Bahnsteig zurück, der Bahnhofsvorstand hebt die Kelle,
ein Pfiff, ich springe in den Zug, die Tür klappt, der Zug fährt an. Teddy
bleibt unverletzt. Und
die Beinahe-Wertsteigerung? Die Fahrkarte in unserer Tasche war mit Frühbucherrabatt
und Zugbindung und Sparpreis und Tüdelüt eben nur für diesen einen Zug gültig
– für den nächsten Zug hätten wir ein neues Ticket kaufen müssen. Ohne Frühbuchertüdelüt:
eben zweihundertachtunddreißig Euro. Kurz
hinter Hannover konnte ich wieder gleichmäßig atmen. |
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