Rainer Kolbe - Das Kind

 

232 Genuss sofort

Es gibt viele Dinge, die bei Achtjährigen unmöglich sind: Geduld, Gemüse und Planung. „Darf ich heute mit Kim spielen??“ „Nein, das darfst du nicht!“ „Och Papa, büüütte!!“ „Nein.“ „Aber warum denn nicht??“ Ich schaue man Kind nachdenklich an. „Du hast einen Zahnarzttermin. Wir sprachen zuletzt vor drei Minuten davon.“ Das Kind grinst. „Oh ja, äh, das habe ich fast vergessen.“

Das Kind verabredet sich gern von jetzt auf gleich: Genuss sofort. Dass man manchmal nicht nur den heutigen Tag bedenken muss, sondern auch den morgigen bedenken kann und den übermorgigen bedenken darf – kein Gedanke. Natürlich weiß das Kind, dass auf den Montag ein Dienstag folgt und auf den Freitag ein Wochenende, an dem es nicht zur Schule muss. Doch Pläne?

Natürlich kann ein Kind Pläne machen. Pläne, die mehr oder weniger weit in die Zukunft ragen: Im Urlaub werde ich das und das machen. Nächstes Jahr bin ich schon so und so. Wenn ich groß bin, werde ich das und das.

Das Kind macht auch Pläne für den Rest des Tages. Wir sitzen beim Mittagessen, das Kind erläutert: Ich mach gleich schnell meine Hausaufgaben („gleich“, „schnell“), dann putze ich mal eben den Meerschweinchenstall („mal eben“) und setze die Schweine raus, dann schreibe ich Oma einen kleinen Brief („kleinen“) und dann renn ich zu Floh („renn“).

Die allerdings nur bis 16 Uhr Zeit hat, wie ich wohl weiß, denn dienstags kommt ihre Hausaufgabenhelferin. Nach meinem Verständnis von Raum und Zeit vertragen sich die Pläne meines Kindes nicht mit der Aussicht, dass Floh nur bis 15.59 Uhr Zeit hat. Aber ich denke erwachsen.

Das Kind denkt nicht erwachsen, und deshalb sind Pläne im seltsamen Raum zwischen irgendwann mal (Urlaub, nächste Jahr, wenn ich groß bin) und jetzt (heute, gleich, nachher) undenkbar. Dass man heute nicht mit Floh spielt, sie aber morgen auf dem Schulhof fragt, ob sie übermorgen oder gar überübermorgen Zeit hat – geht nicht. Blockade. Fehlende Synapsen.

Immerhin weiß ich, dass mein Kind kein psychochronosozialer Sonderfall ist, sondern ganz normal. Das Kind will also zum Zahnarzt gehen, putzt sich die Zähne, streift sich ein leichtes Jäckchen über, die Tür klappt, das Telefon klingelt: Kim ist dran. Fragt, ob sie mit meinem Kind spielen könne. Ich sage nein, die sei zum Zahnarzt. Aber wenn sie sich vielleicht morgen in der Schule für einen anderen Tag verabreden... Tuut, tuut, tuut. Kim hat einfach aufgelegt! Genuss sofort.

Doch trotz aller Pläne und Zahnarzttermine, die Eltern so um ihre Kinder herum stricken: Manche Verabredungen glücken. Weil gerade nicht Dienstag ist und weil gerade alle Zeit haben und weil die Eltern gerade nicht irgendeinen Blödsinn zur Kinderbespaßung geplant haben und weil der Zahnarzttermin gestern war.

Und wenn Verabredungen glücken, dann spielen mein Kind und Floh mit großer Seeligkeit, entrückt aller Hausaufgaben und Termine und Pläne. Galoppieren als Pferde durch den Garten, streicheln Meerschweinchen, hämmern in der Garage, gehen mit dem Hund spazieren, fahren mit dem Rad um den Feuerlöschteich. Die Sonne sinkt um einige Millimeter (jedenfalls von hier aus gesehen, in Wirklichkeit sind das Tausende von Kilometern), und mir graut vor dem Moment, da der große Zeiger und der kleine Zeiger mit der ihnen eigenen Unbarmherzigkeit anzeigen, dass nun wirklich der Moment gekommen ist, an dem ich dieses kindliche Glück – zumindest bis morgen – beenden muss.

Denn das Abendprogramm droht, die Mutter von Floh soll sich auch keine Sorgen machen, ich trete vors Haus und werfe kurz in die Luft, dass Floh in einer halben Stunde zu Hause sein muss und wir ja auch Abendessen wollen.

Aber damit ist noch nichts geklärt...

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