Rainer Kolbe - Das Kind

 

233 Schön locker bleiben

Phänomene der Zeit, Phänomene des Raumes. Was bedeutet „gestern“, und was bedeutet „übermorgen“? Und was bedeutet uns all das übermorgen? Was hat es uns gestern bedeutet? Das Kind ringt aber nicht nur mit dem Gestern und dem Übermorgen, es erfährt auch, dass Stunden und Minuten unterschiedlich lang sein können. Und wir Eltern erfahren, dass das Kind Stunden und Minuten sehr unterschiedlich interpretieren kann. Und so geht’s:

Der Tag beginnt. Die Sonne scheint durch das Fenster, ich strecke mich, stehe auf, kratze mich (am Kopf!), gehe in die Küche, setzte Wasser auf. Was wird der neue Tag bringen? Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl.

Schnell verbreitet sich der Duft frisch aufgebrühten Kaffees im Haus. Zwanzig Minuten nach Sieben stürzt das Kind in die Küche, nicht ganz vollständig gekleidet und mit wirrem Haar. „Ich muss mich beeilen mit dem Frühstücken, ich darf nicht zu spät in die Schule kommen!!“ Schulbeginn ist für die Zweitklässler um Viertel nach Acht, für den Weg benötigt das Kind mit dem Fahrrad zehn Minuten, langsam gefahren. Da ist zwanzig nach Sieben wirklich extrem knapp.

Um schön locker zu bleiben, stelle ich mich am nächsten Morgen darauf ein, dass das Kind früh los will, um seinen Schultag nicht in Eile beginnen zu müssen. Ich beeile mich, den Frühstückstisch frühzeitig gedeckt zu haben. Vierzig Minuten nach Sieben kommt das Kind mit großer Seelenruhe in die Küche getrödelt, nicht ganz vollständig bekleidet und mit wirrem Haar. Lässig beginnt es sein Frühstück, langsam kauend, gerne plaudernd. Fünfundfünfzig Minuten nach sieben geht das Kind nach oben, Zahnbürste und Haarbürste suchen. Es hat ja alle Zeit der Welt.

Um weiterhin locker zu bleiben, stelle ich mich am nächsten Morgen darauf ein, dass Kind ein wenig anzutreiben, damit es den Schulweg nicht in gefährlicher Eile zurücklegen muss. Als es in die Küche kommt, bitte ich es höflich, mir doch geringfügig zur Hand zu gehen und vielleicht die Milch aus dem Kühlschrank zu holen. Da sackt es förmlich in sich zusammen. „Oh nee, muss das jetzt sein??“ Und nörgelt und grummelt. Mein Vorschlag, mir doch bitte die Brotdose aus dem Schulranzen zu reichen, führt auch nicht weiter: Den Ranzen hat das Kind oben vergessen.

Um auch zukünftig locker zu bleiben, stelle ich mich am nächsten Morgen darauf ein, am besten gar nichts zu sagen. Will also selbst die Milch aus dem Kühlschrank holen, aber oh Schreck: Keine Milch da. Da betritt das Kind die Küche und setzt sich auf seinen Platz. Ich murmele gedankenverloren etwas wie „keine Milch, schade...“, da springt das Kind auf, „ich hol’ Milch“ und flitzt zum Kaufmann.

Um noch lockerer zu werden, stelle ich mich am nächsten Morgen darauf ein, mich auf gar nichts mehr einzustellen! Was auch nicht einfach ist, denn mit Aufstehen und Frühstücken ist’s nicht getan. Es folgt noch die elterliche Korrektur der Kleidung und der Frisur, sodann sind Meerschweinchen zu füttern und Zähne zu putzen.

Das Kind läuft also los und sammelt Löwenzahnblätter. Mit der Faust voll davon tappt es die Treppe nach oben, um den Schweinen ihr Frühstück zu bringen. Nach vier Minuten kommt es verschämt grinsend wieder runter, es hatte vergessen, dass die Schweine seit gestern wieder im Garten wohnen. Ich frage mich allerdings, wieso es vier Minuten gebraucht hat, um das festzustellen?! Vielleicht hat es schon die Zähne geputzt? Da kommt das Kind aus dem Garten wieder ins Haus, „ich geh’ Zähne putzen“ und tappt nach oben. Es dauert. Lange. Dann tappt es wieder runter. „Wo ist mein Ranzen??“ Der ist oben...

Immer schön locker bleiben.

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