Rainer Kolbe - Das Kind

 

234 Die Ruhe nach dem Sturm

Phänomene der Zeit, Phänomene des Raumes. Was bedeutet „jetzt“ und was bedeutet „gleich“, was „pünktlich“, was „zu früh“, was „zu spät“? Das Kind ringt nicht nur morgens mit sich und der Uhr, wenn es gilt, Frühstück und Zähneputzen und das Füttern des Meerschweinchens in Einklang zu bringen mit dem Beginn der ersten Schulstunde.

Am späten Nachmittag ist’s ja ganz genauso. Da kann man zusehen, wie der liebe lange schöne bunte aufregende Tag in dem schwarzen Loch zu verschwinden droht, das Eltern „Abendprogramm“ nennen und zu dem so aufregende Dinge gehören wie Abendessen, Zähneputzen und Füttern des Meerschweinchens. Das Kind erfährt, dass Stunden und Minuten unterschiedlich lang sein können. Und wir Eltern erfahren, dass das Kind Stunden und Minuten sehr unterschiedlich interpretieren kann. Und so geht’s:

Die Sonne neigt sich dem Horizont zu. Ich erhebe mich vom Sofa, strecke mich, kratze mich (am Kopf!), gehe in die Küche, setzte Nudelwasser auf. Und blicke aus dem Fenster: Das Kind spielt mit seiner Freundin Flo im Hinterhof, herzallerliebst, friedlich, abendlichtumleuchtet. Aber es nützt nix, Flo muss demnächst aufbrechen, damit ihre Mutter sich keine Sorgen macht. Ich rufe also nach draußen, wie spät es ist, und das Flo in ungefähr einer halben Stunde los muss.

Jetzt beschleunigt sich das kindliche Leben spürbar. Jetzt muss unbedingt noch schnell erledigt werden, was in den letzten vier oder fünf Stunden zu kurz gekommen ist. Jetzt muss gespielt und gebastelt werden, was in den letzten vier oder fünf Stunden nicht gespielt und gebastelt werden konnte. Nicht, dass dafür keine Zeit gewesen wäre, doch es wurde anderes gespielt und gebastelt in dieser Zeit. Da der Tag aber nicht rund sein kann, wenn nur ein Teil der Möglichkeiten wahrgenommen worden ist, muss in der verbleibenden halben Stunde noch sein, was nicht war.

Die beiden Kinder zerren zwei Roller aus dem Schuppen (weil sie bisher zwar Fahrrad und Waveboard gefahren sind, aber eben noch nicht Roller). Nach einigen Kurven mit dem Roller ist noch das Holzpferd dran (weil sie bisher zwar Kopf und Hals wieder angenagelt und die Mähne mit frischem Tesafilm angeklebt haben, aber eben der Schweif noch nicht gestriegelt wurde). Und wenn man ohnehin schon eine Bürste in der Hand hat, kann auch das Meerschweinchen noch gebürstet und gestreichelt werden (weil es bisher nur herumgetragen und gefüttert wurde).

Erneut trete ich vor die Tür, ganz brutaler Erziehungsberechtigter, und sage an, was die Stunde geschlagen hat: noch zehn Minuten! Oh Gott, Spielen droht tatsächlich zu Ende zu gehen! Jetzt wird in fieberhafter Eile der große Eimer mit der Straßenmalkreide gesucht und gefunden. Leider befindet er sich in kleinkindsicherer Höhe. Also muss Papa gesucht und gefunden werden. Wertvolle Sekunden verstreichen. Eilig werden dann einige Figuren aufs Straßenparkett gemalt, bevor den Kindern einfällt, dass sie heute noch nicht im alten Autoreifen gesessen haben und nicht auf dem Trampolin gehüpft sind und nicht mit den Stelzen und nicht mit dem Hammer und nicht mit dem ...

Bong!, bong!, bong!, bong!, bong!, bong!, dröhnt da die Kirchturmuhr herüber. Die Zeit ist um! Flo verabschiedet sich eilig, steigt auf ihr Rad und ist weg.

Die Ruhe nach dem Sturm. Mein Kind steht etwas verloren im Hinterhof, der komplett zugerümpelt ist mit Fahrrad Waveboard Roller Holzpferd Tesafilmabroller Bürsten Straßenmalkreiden Autoreifen Trampolin Stelzen Hammer Nägeln und all den anderen schönen Dingen.

Zum Abendprogramm gehört auch das Aufräumen. „Komm, ich helfe dir“, sage ich. „Danke“, sagt das Kind leise.

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