Rainer Kolbe Das Kind

 

245 Zeitverschiebung

Das waren Ferien! Das Kind war mit seiner Familie in den Wäldern Schwedens, an einem großen See mit hohen Kiefern rundherum, am Ufer eine rotgestrichene Hütte und ein manchmal sogar blauer Himmel darüber.

Ein paar Stunden nach dem Urlaub prallte das Kind wieder auf das echte Leben: Die Schule begann. Mein Kind ist jetzt ein Drittklässler. Dritte Klasse heißt, dass die erste Stunde um Viertel nach sieben beginnt.

Der Wecker piept um 5.55 Uhr. Je nach Tagesverfassung steht das Kind um 5.57 Uhr neben meinem Bett, fix und fertig angezogen, und fragt mich, wann ich endlich das Frühstück zu bereiten gedenke. Oder ich muss es in der kommenden halben Stunde mehrmals, mühsam und mitleidig wecken, und fragen, wann es endlich das Frühstück einzunehmen gedenkt.

Nun ist das menschliche Gehirn in Teilen durchaus erforscht, und die Forschenden haben festgestellt, dass Schüler den Unterrichtsstoff besser aufnehmen, wenn sie nicht zu früh anfangen mit dem Aufnehmen. Neun Uhr ist eine gute Zeit für den Beginn. Alles, was vorher gelernt wird, wird umgehend vergessen. Oder kommt gar nicht erst im Gehirn an. Schade um die schöne Zeit.

Ja, ich weiß, dass viele Menschen viel früher aufstehen als um 5.55 Uhr, weil ihr Beruf es erfordert oder weil sie Frühaufsteher sind. Und ja, ich weiß, der frühe Vogel fängt den Wurm.

Morgens aufstehen ist einfach zu früh! Ich bin kein Frühaufsteher, jedenfalls nicht von meinem Naturell her. Ich bin allerdings seit achteinhalb Jahren Vater und also Frühaufsteher. Doch es ist schon ein Unterschied, ob man von den eigenen fröhlichen Kindern zum frühen Aufstehen gezwungen wird oder von einem Omnibus.

Denn der frühe Schulbeginn hat irgendwie mit den Schulbussen zu tun, die über die Dörfer fahren und die Schulpflicht auch auf den etwas entlegeneren Höfen durchsetzen. Der Bus sammelt die Kinder ein und liefert sie an verschiedenen Schulen wieder ab und fährt schließlich sogar in die graue Stadt zur weiterführenden Schule. Und weil die um acht Uhr beginnt, muss der Hausmeister unserer Schule eine Dreiviertelstunde früher die Türen öffnen, weil der Bus eine Dreiviertelstunde früher da ist.

Oder so ähnlich.

Allerdings frage ich mich, warum auch die Schüler so früh anfangen müssen, die nicht mit dem Bus fahren, sondern mit dem Fahrrad? Wieso die bestraft werden? Und wieso die Eltern bestraft werden? Und wieso ich? Was habe ich mit dem Schulbus der Kinder fremder Leute zu tun? Nichts!

Der Dreijährige schnarcht friedlich und lieblich weiter, Nachbars Hahn pennt auch noch ‒ und ich darf jetzt ein kräftiges Brot für mein Kind mit Leberwurst beschmieren für die große Pause. Es ist Viertel nach sechs und ich muss Leberwurstbrote machen. Ich mag keine Leberwurst.

Während ich im Morgengrauen schmiere und bereite, erinnere ich mich an meine Schulzeit. Die erste Stunde begann immer um acht Uhr, grausig früh. Wie mühsam es war, so gegen Viertel nach sieben ein Bein aus dem Bett und ein Auge geöffnet zu kriegen. Mit Schaudern hörte ich die Berichte meiner Mutter, die in ihrer Schulzeit zur „Frühstunde“ ging, die um Viertel nach sieben begann, um eine Fremdsprache zu erlernen!

Acht Uhr war besonders grausam, wenn der Tag mit einer Mathematik-Doppelstunde begann. Oder, noch besser, mit Latein! Mein Kind aber ist noch tapferer! Erster Schultag nach den großen Ferien? Sport! Sport an einem Montag um sieben Uhr fünfzehn! Oh Gott!

Nachbarn mit älteren Kindern hatten uns schon vor den Ferien berichtet, dass man sich an 5.55 Uhr gewöhnen kann. Wir glauben es nicht, haben aber die erste Schulwoche überstanden.

Und am Wochenende durften wir ausschlafen: Das kleine Kind wachte erst um Viertel nach sieben auf. Wenn mir das einer früher erzählt hätte, dass ich Viertel nach sieben als „Ausschlafen“ bezeichnen würde...

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