Rainer Kolbe Das Kind

 

246 Allein unterwegs

Es ist für ein kleines Kind ‒ selbst wenn es nicht mehr ganz so klein ist ‒ natürlich immer sehr aufregend, eigene Schritte zu gehen. Wie aufregend das ist, wenn es das erste Mal ganz allein vors Haus und in den Garten darf! Wie aufregend, wenn es das erste Mal in für alle Beteiligten überschaubarem Gelände losgeschickt wird, seinen Kram gefälligst selbst zu regeln, sprich: Über das Gemeindefest im Pastoratsgarten zu tappen und sich selbst und ganz allein ein weiteres Brötchen an der Imbissbude zu holen! All das!

Aufregend nicht nur für kleine Kinder, aufregend natürlich auch für die Eltern: Wird das kleine Kind wieder über den großen Hund stolpern oder über eine beliebige Bodenwelle? Wird es an der ganzen langen Schlange der Wartende vorbei tappen, von diesen beifällig belacht, sich vorne anstellen und dann auch noch durch bevorzugte Handlung belohnt werden? Und was wird es tun, wenn fremde Menschen es ansprechen, einen Scherz machen? All das!

Die Geschichte schreitet voran und aus einem kleinen Kind wird ein mittelgroßes Grundschulkind. Bald ist nicht mehr sehr aufregend, sich selbstständig alle möglichen Leckereien besorgen. Das ist ganz normal. Neue Abenteuer werden gesucht, die alten sind Alltag.

Für Eltern gilt das gleichermaßen. Nach unserem Umzug vor einem Jahr begleitete ich mein Kind in den ersten Wochen selbstverständlich zur neuen Schule und holte es wieder ab. Mit dem „Ganzlütten“ im Fahrradanhänger. Was für ein Aufwand zweimal am Tag! Heute fährt das Kind bei Wind und Wetter mit großer Selbstverständlichkeit ganz allein quer durch das Dorf zur Schule und zurück, und mit noch viel größerer Selbstverständlichkeit rennt es nachmittags ganz allein zum Höker, um das Taschengeld in an sich ungenießbare Süßwaren einzutauschen.

Nun wissen wir, dass es für Kinder wichtig ist selbstständiger zu werden und die Welt mit eigenen Füßen zu erwandern, auf eigenen Rädern zu erradeln. Und wir wissen natürlich auch, dass Eltern lernen müssen loszulassen. Auch wenn’s schwerfällt.

Mitunter sehr schwer. Die beliebte Seite „Aus aller Welt“ in der Tageszeitung macht es einem ja nicht leichter. Hier liest man, was für Gefahren drohen, was für böse Menschen in der Welt herumlaufen, was alles passieren kann. Aber selbst wenn sehr genau weiß, dass die bösesten Wahrscheinlichkeiten im allergeringsten Promillebereich liegen, so hat man als liebende Eltern eben doch ganz schlicht: Angst. Und weiß zugleich, dass man loslassen muss. Es ist, tatsächlich, zum Verrücktwerden.

Nun aber war Freitag. Freitags hat das Kind Voltigieren ‒ allerdings im Nachbardorf, zwei Kilometer entfernt. Ich hatte wichtige Dinge zu tun, musste zugleich das kleine Kind hüten, die Lieblingspastorin war nicht da und auch noch mit dem Auto unterwegs. Warum eigentlich kann das große Kind nicht alleine mit dem Rad fahren?

Das Kind kennt Ort und Weg und Strecke. Die Straße ist schnurgerade, man kann vom letzten Haus des eigenen Dorfes das erste Haus des Nachbardorfes sehen. Die Straße ist gut zu überblicken. Der Verkehr ist nicht sehr dicht, aber einer ist immer gerade unterwegs. Es ist Sommer, es ist hell, die Sonne scheint, das Wetter ist überraschenderweise ist gut. Kurz: ideale Bedingungen für den ersten Versuch, des Kindes Aktionsradius etwas zu vergrößern!

Also: ideale Bedingungen für die Eltern, das Loslassen weiter zu üben. Das Kind selbst ist sofort begeistert von der Vorstellung, endlich ganz alleine mit dem Fahrrad ins Nachbardorf zu fahren!

Doch halt ‒ erst müssen die Hausaufgaben gemacht werden. Das Kind lernt, ich räume die Küche auf, und irgendwann ist es soweit.

Was dann geschah, lesen Sie in der nächsten Woche...

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