Rainer Kolbe Das Kind

 

247 Fast allein unterwegs

Freitags hat das Kind Voltigieren. Warum eigentlich „Voltigieren“? Das Kind liebt Pferde ‒ aber das tun achtjährige Mädchen nun mal, da kann man machen, was man will. Als ich so alt war wie mein Kind jetzt ist, da fand ich Pferde komisch ‒ wie alle achtjährigen Jungen ‒ und Voltigieren noch viel komischer. Turnen auf dem Pferd! Turnen ist schon am Boden seltsam genug, Reck erst recht, aber auf einem Pferd??!

Inzwischen sehe ich glücklicherweise vieles anders. Und ich sehe, wie viel Spaß mein Kind beim Voltigieren und welche Körperbeherrschung es dabei erlernt, na ja, und wenn Gäule es glücklich machen, dann soll es wohl so sein.

Nun also ist Freitag, freitags hat das Kind „Volti“ ‒ allerdings im Nachbardorf, zwei Kilometer entfernt. Ich habe wichtige Dinge zu tun, muss auch zugleich das kleine Kind hüten, die Lieblingspastorin ist nicht da und mit dem Auto unterwegs. Warum eigentlich kann das große Kind nicht alleine mit dem Rad fahren?

Es ist Sommer, es ist hell, die Sonne scheint, das Wetter ist gut. Kurz: ideale Bedingungen für den ersten Versuch, des Kindes Aktionsradius etwas zu vergrößern! Also soll das Kind doch bitte schön alleine fahren!

Ich kläre es einmal mehr darüber auf, dass es nicht in Autos fremder Leute einsteigen darf und dass auch die allergrößten Versprechen fremder Leute böse Lügen sein können. Und dass es im Notfall all das darf, was es auf dem Schulhof nicht darf.

Und zum Glück gibt es so etwas wie Handys, die zwar Gefahren nicht bannen, aber doch eine Möglichkeit sind, in Verbindung zu bleiben. Sprich: Ruf mich an, wenn du da bist, dann bin ich beruhigt. Ruf mich an, wenn du losfährst, dann weiß ich, wann du ungefähr wieder zu Hause sein wirst.

Ich tüdel ein bisschen an den Einstellungen des Familienhandys rum, so dass das Kind nur zweimal auf die linke obere Taste drücken muss, und schon klingelt es bei uns Zuhause. Ganz einfache Sache.

Die Zeiger auf der Küchenuhr rücken vor, die Hausaufgaben sind gemacht, die Tür klappt. „Duhu. Papa.“ „Ja?!“ „Also, irgendwie, ich meine, mir ist das viel zu umständlich mit dem Telefonieren!!“ Es ist nicht umständlich. Das Kind muss zweimal auf den Knopf links oben drücken, ein wenig warten, bis ich Zuhause ans Telefon gehe, kurz vermelden, dass es angekommen ist beziehungsweise dass es jetzt losfährt ‒ und gut. „Ja, aber irgendwie ist das doch total umständlich!!“ Ich ahne. „Möchtest du vielleicht lieber doch nicht so gerne allein fahren?“, frage ich sanft. Das Kind, laut: „Doch!! Sehr!!“ Kurze Pause. Leise: „Nächste Woche!!“

Vielleicht habe ich dem Kind zu viele Warnungen zugemutet? Das Kind ist ja erst acht Jahre alt, was weiß es von der Welt, was von bösen Menschen?

Aber das Kind wäre nicht das Kind, wenn es nicht sehr konkrete Vorschläge in der Hinterhand hätte: „Nächste Woche begleitest du mich wieder mit dem Rad, und dann rufe ich Mama mit dem Handy an und sage ich, dass wir gut angekommen sind!!“ Was daran einfacher sein soll? Es ist wohl die beruhigende Gewissheit, dass beide Eltern da sind...

Ich habe wichtige Dinge zu tun ‒ aber kann es wichtigere Dinge geben als mich um mein Kind kümmern? Und schönere? Eben nicht. Allerdings war da noch ein kleines Kind, das wirklich ausgerechnet heute nach einer offenbar anstrengenden Kindergartenwoche tatsächlich mal wieder einen Mittagsschlaf macht! Aus dem ich es wecken muss, um es anzuziehen und zu behelmen und noch reichlich schlaftrunken in den Fahrradanhänger zu schnallen.

So radeln wir drei gemeinsam ins Nachbardorf. Wobei „gemeinsam“ meint, dass mein großes Kind auf dem Weg zum geliebten Pferd so weit voraus fährt, dass es die halbe Strecke zum Nachbarort schon hinter sich gebracht hat, als ich gerade mal am Ortsausgangsschild bin! Immerhin guckt es sich einmal um, ob ich noch folge.

Fast allein unterwegs!

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