Rainer Kolbe Das Kind

 

248 Auf dem Klageweg

Vor einigen Tagen war in der Zeitung zu lesen, dass Steven, 23 Jahre alt, und Kathryn, 20 Jahre, ihre Mutter wegen „emotionaler Missbrauch“ auf 50.000 Dollar Schmerzensgeld verklagt haben.

Nun hat man aus Amerika ja schon einiges gehört und gelesen, was seltsame Klagen und abstruse Schmerzensgeldforderungen angeht. Und natürlich gibt es böse Eltern, und es ist gut, wenn erwachsene Kinder wenigstens nachträglich noch gegen Missbrauch vorgehen können. Doch wie sah im konkreten Fall der „emotionale Missbrauch“ aus?

Die Kinder trugen vor, dass die Mutter zu wenig Geld für Diskonächte herausgerückt habe. Es habe kein teures Kleid für den Abschlussball der Schule gegeben. Die Mutter habe keine Verpflegungspakete an die Hochschule geschickt. Zu Weihnachten habe es zu wenig Geschenke gegeben und zum Geburtstag kein Geld. Die Ausgehzeiten seien viel zu streng gewesen. Und schließlich habe die Mutter auch noch erwartete, dass die Kinder beim Autofahren angeschnallt seien!

Haben die keine anderen Sorgen?

Nun kann man denken „Amis halt“ und sich den interessanteren Themen derselben Zeitung zuwenden. Da aber kommt mein Kind vorbei: „Papa, ich brauche uuunbedingt ...“ Ich antworte kurz mit väterlichem „Nö!“ und lese weiter. Das Kind zieht beleidigt vondannen. Schon stutze ich: Werde ich eines Tages selbst vor einem Richter erscheinen müssen wegen „emotionalen Missbrauches“? Vielleicht wegen eines „Nö!“ nach einem „uuunbedingt“?

Ich gehe in mich. Zu wenig Geld für Diskonächte? Das ist bei uns noch kein Thema ‒ und welche Disko sollte das auch sein, hier gibt es ja gar keine.

Keine Verpflegungspakete? Das Kind bekommt sein Pausenbrot mit in die Schule. Manchmal lege ich versuchsweise und ganz optimistisch etwas Obst oder Gemüse bei, das ich dann mittags nach der Schule zurückbekomme. Aber „Paket“ würde ich das nicht nennen. Und ab und an darf sich das Kind beim Bäcker etwas aussuchen, da fährt es nämlich jeden Morgen vorbei auf dem Weg zur Schule.

Keine teuren Kleider? Es muss nicht teuer, sondern gut sein. Oder schön. Das Kind trägt alles mögliche, sofern es ihr und uns gefällt. Marken waren bisher egal, auch gebrauchte Kleidung wurde nicht verschmäht. Zu dem ist das Kind so beweglich und lebendig, dass es auch schon mal aus vollem Lauf hinknallt, und die Tränen danach gelten sowohl dem Schmerz als auch der zerrissenen Hose. Gut, wenn diese Hose keine überteuerte Designer-Marken-Hose war!

Da fällt mir allerdings das Thema „Turnschuhe“ ein. Das Kind äußerte den Wunsch nach neuen Turnschuhen der Firma A. Ich wies das Kind zurecht, es bekomme Schuhe, die passten und gut seien, egal, ob von A. oder P. oder N. Das Kind beharrte auf A., wir verschoben den Besuch im Schuhgeschäft.

Natürlich habe ich nicht erzählt, dass ich selbst als Kind meistens Schuhe von P. hatte und die meisten anderen Kinder von A. (N. gab es noch nicht). P. war eher ein wenig peinlich, und gerne hätte ich Schuhe von A. gehabt...

Und sonst? Ja, das Kind muss sich im Auto anschnallen. Ja, es soll um achtzehn Uhr zuhause sein, es muss ja auch um sechs Uhr aufstehen. Zum Geburtstag gibt es von uns Eltern keinerlei Geld. Und, ja, ich lege wert auf gewisse Regeln beim Essen (fragen Sie mich nicht, wie groß die Diskrepanz ist zwischen meinen Werten und der konkreten Umsetzung durch das Kind). Ja, die Zähne werden geputzt, die Nachbarn gegrüßt, Kinder dürfen nicht dazwischen reden, wenn Erwachsene reden (gilt übrigens umgekehrt genauso!). Und wer mit nassen Stiefeln durch die ganze Wohnung schlurft, bekommt Ärger.

Ich höre lieber auf! Mir fällt noch viel mehr ein! Ich bin ein schlechter Vater! Emotionaler Missbrauch ‒ wann wird mein Kind mich verklagen?

Doch gibt es Hoffnung: Der Richter hat die Klage von Steven und Kathryn abgewiesen.

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