Rainer Kolbe Das Kind

 

252 Ich föhne Turnschuhe

Es ist 6 Uhr 33. Ich schlafe. Einerseits.

Andererseits sitze ich auf dem Hocker im Bad und föhne einen feuchten Turnschuh, ausgiebig und in großer Ruhe. Irgendwann ist der Turnschuh trocken. Ich greife ‒ irgendwie dabei weiterschlafend ‒ neben mich und nehme einen zweiten feuchten Turnschuh in die Hand. Ich föhne auch ihn ausgiebig und in großer Ruhe. Irgendwann ist der zweite Turnschuh ebenfalls trocken. Ich tappe in die Küche und brühe Kaffee auf. Die warmen Turnschuhe reiche ich meinem Kind.

Kennen Sie das? Sie machen etwas mit großer Selbstverständlichkeit, weil es gerade getan werden muss, weil es dran ist, weil es sonst keiner tut. Und mitten im Tun merken Sie auf, ja, schrecken fast hoch: WAS mache ich hier eigentlich?

Das Fönen von Turnschuhen morgens um 6 Uhr 33 und vor dem ersten Becher frisch aufgebrühten heißen Kaffees gehört unbedingt zu diesen Dingen, die getan werden müssen, die einen aber doch am eigenen Verstand zweifeln lassen: WAS mache ich hier eigentlich?

Im wachen Zustand (sagen wir mal: nach einem Eimer Kaffee und kurz nach neun Uhr) ist das leicht erklärt. Das Kind war gestern zum Probetraining beim Mädchenfußball drei Dörfer weiter. Für ein Probetraining kaufe ich keine neuen, echten Fußballschuhe, dafür müssen die normalen Turnschuhe reichen.

Und natürlich war der Fußballplatz ganz und gar nicht trocken, also sahen die Turnschuhe hinterher aus, wie sie aussahen. Schlammverkrustet und durchweicht. Schmutzige Sportschuhe ‒ ein Zeichen von Engagement!

Am Abend berichtete das Kind begeistert der Mutter. Vor lauter Begeisterung muss es vergessen haben, seine Turnschuhe zu säubern. Ich merkte es leider auch erst, als das Kind schon lange im Bett war. Am nächsten Tag aber war Schulsport, da müssen die Schuhe ein turnhallentaugliches, schlammfreies Äußeres haben! Weshalb sie über Nacht mit in der Waschmaschine rotierten. Weshalb ich in aller Herrgottsfrühe im Bad sitze und Turnschuhe föhne ...

Gestern war also Probetraining. Von Fußball war ja schon die Rede, zuletzt in Folge 241 „Endspiel“, Folge 249 „Ein echtes Holzpferd“. Also nicht vom Auf-dem-Sofa-sitzen-und-Fußball-gucken mit Malzbier und mit Echtbier. Sondern vom Mädchenfußball. Das meint mein Kind doch nicht ernst?

Sie erinnern sich: Es war Frauenfußballweltmeisterschaft in diesem Jahr. Und jetzt will das Kind Fußball spielen. Was könnten wir Eltern dagegen haben? Höchstens, dass Mädchen nicht Fußball spielen können! Zumindest nicht, ohne beim Kicken mit Papa im Garten schon beim dritten Gegentor in Tränen auszubrechen oder den Ball wutentbrannt über den Zaun in Nachbars Garten zu dreschen. So sah es jedenfalls bis neulich aus.

Wenn Mädchen wirklich wollen, dann wollen sie. Und wenn sie Fußball spielen LERNEN wollen, will ich nicht im Wege stehen. Also setzte ich mich an den Computer, startete das Internet und fing an zu suchen. Frauenfußballweltmeisterschaft hin oder her, die Zahl der Mädchenmannschaften in der passenden Altersgruppe ist überschaubar. Doch ich fand eine Mannschaft, drei Dörfer weiter. Mit einem kurzen Anruf wurde ein Probetraining vereinbart.

Das war GESTERN. Das Kind war EINMAL beim Fußballtraining, hat dort ein paar Dehnübungen gemacht, dann ein wenig herumgekickt, viermal aufs Tor geschossen. Hat sich dann im Testspiel Frau gegen Frau dreimal komplett von der ‒ viel geübteren ‒ Gegenspielerin übertölpeln lassen. So weit, so nett.

HEUTE spielt das Kind ein wenig mit dem Ball im Hinterhof, drischt ihn an die Hauswand, nur knapp unter das Fenster der Küche vom Gemeindesaal, der Ball prallt zurück, das Kind nimmt ihn an, drischt wieder und so weiter ‒ DEUTLICH ballsicherer als vor zwei Tagen. Richtig geschickt. Und ausdauernd. Nix mehr zu sehen von Tränen und Wut.

Mein Gott, das Kind meint es ernst!

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