Rainer Kolbe Das Kind

 

253 Ein Herz und eine Seele

Miteinander streiten gehört zum Leben, und auch Kinder streiten miteinander. Vielmehr: Sie müssen es lernen. Und sie müssen natürlich auch das Versöhnen lernen. Das ist gerade für Außenstehende nicht immer einfach: Kann es sein, dass zwei gesunde, normal intelligente Kinder sich jetzt allen Ernstes um die Größe der Nachtischschälchen streiten? Wohlgemerkt: der Schälchen, nicht der Portionen! Ja, es kann.

Gott sei Dank sind die Kinder recht verschiedenen geraten, es wird nicht fortwährend um das gleiche Spielzeug konkurriert: Das große Mädchen spielt mit Puppen und Stofftieren und bastelt leidenschaftlich gerne. Der kleine Junge spielt mit Autos und der Holzeisenbahn und baut Türme aus Legosteinen.

Auch sind die Kinder rund fünf Jahre auseinander, da ist die Schnittmenge gemeinsamer Interessen nicht so groß. Denkt man jedenfalls als Erwachsener und räumt beim großen Kind ein wenig auf, diese Bilderbücher zum Beispiel kann man getrost ins Zimmer des kleinen Kindes tragen, die Große ist schon viel zu groß für diese Bücher. „Papa!! Das sind meine Bücher!! Die brauche ich noch!!“ „Aber mein Schatz, diese Bücher nimmst du nimmer zur Hand, das sind Bilderbücher für kleine Kinder, die bekommt jetzt dein Bruder.“ „Papa!! Da sind Pferdebilder drin!!“ Oh, da hatte ich wohl nicht richtig aufgepasst.

Bei aller Verschiedenheit: Manchmal braucht auch ein Junge einen Puppenwagen, will eine Puppe umziehen und wickeln und füttern. Er geht also in der Zimmer der Schwester und nimmt sich, was er braucht. Na klar, dann gibt es erstmal Geschrei, das sind meine Sachen!!, ich will damit spielen!!, lass das liegen!!, ich will das aber mitnehmen!!, bring’ das wieder zurück!! ‒ und bevor der ganze Laden auseinander fliegt, eile ich hinzu und versuche zu schlichten: Eine Puppe darf das kleine Kind mitnehmen, nicht alle Puppen. Den Puppenwagen darf es ausleihen, die Puppenwickeltasche auch, aber der Puppenarztkoffer bleibt zurück. Papa als Schlichter. Seufz.

Und so wie ein maschinenbegeisterter Junge manchmal mit Puppen spielen will, so will ein pferdeverliebtes Mädchen manchmal mit der Holzeisenbahn spielen. Geht also in das Zimmer des Bruders und hockt sich auf den Boden, wo noch die umfassende Gesamtholzeisenbahnanlage steht, die ich gestern mit dem kleinen Kind aufgebaut habe. Das Mädchen greift nach der kleinen schwarzen Diesellokomotive. Na klar, dann gibt es erstmal Geschrei, das ist meine Lok!!, ich will doch nur damit spielen!!, damit will ich aber jetzt spielen!!, eeeinmal!!, du kannst die da haben!!, die ist aber kaputt!! ‒ und bevor der ganze Laden zum zweiten Mal an diesem Tag auseinander fliegt, eile ich hinzu und versuche zu schlichten. Papa, der Schlichter.

Da ich schon Jahre meines Lebens (netto!) damit verbracht habe, kleine Kinder vorne zu füttern und hinten zu säubern, kann ich mich für das Füttern und Wickeln von Puppen nicht begeistern. Da ich aber niemals Lokomotivführer war, hocke ich mich jetzt zu meinen beiden Kindern auf den Boden ‒ und greife nach der roten Diesellok. Na klar, dann gibt es erstmal Geschrei, das ist seine Lok!!, ich denke, er will die schwarze!!, die habe aber ich!!, nimm doch die!!, die will ich auch nicht, die ist kaputt!!, dann repariere sie doch endlich mal!!, reparier’ sie doch selbst!!, das soll ich ja nicht!!, weil du immer mein Werkzeug wegschleppst!! und so weiter.

Da ich diesem speziellen Fall involviert bin, kann ich nicht in meiner Funktion als Schlichter herzu eilen. Das haben die Kinder schnell und klar erkannt. Das kleine Kind wirft mir noch ein herzliches „Du bist doof!!“ an den Kopf, wendet sich seiner Schwester zu, „Papa ist doof!!“, die Schwester grinst. Und bevor der ganze Laden zum dritten Mal an diesem Tag auseinander fliegt, greift die Schwester nach der Hand des Bruders, „Komm, wir spielen mit Puppen!!“

So ziehen die beiden von dannen, ein Herz und eine Seele.

laden
start