Rainer Kolbe Das Kind

 

255 Der Schminkkasten

Das Kind hat sich wieder geschminkt. Das tut es eigentlich nicht, das soll es eigentlich auch nicht, wir Eltern finden, dass das viel zu früh ist, mit noch nicht ganz neun Jahren muss man sich nicht schminken. Wir wollen das Kind bremsen, die Mutter schminkt sich auch nur dezent und ich mich zum Beispiel gar nicht.

Das Kind aber schminkt sich. Man kann wenig dagegen tun, denn bei der letzten Kindergeburtstagsfeier gab es einen kleinen Schminkkasten als Gewinn für den ersten Platz bei einem lauten Spiel. Natürlich schminkt sich das Kind nun nicht jeden Tag, es brezelt sich nicht auf für den Schulhof, das Schminken ist nur ein Spiel. Das asymmetrische und ziemlich bunte Ergebnis dürfte auf dem Schulhof auch eher für Gelächter als für anerkennende Blicke sorgen.

Eigentlich ist es gar kein Problem, dass sich mein großes Kind ab und an ein wenig Farbe ins Gesicht pinselt. Das wirklich Problem linst um die Ecke. Das kleine Kind findet Malen auch großartig und sieht jetzt diesen Schminkkasten, der fatalerweise beinahe aussieht wie ein normaler Tuschkasten und fatalerweise am späteren Nachmittag ein wenig unbeobachtet bleibt. Ich war dann wirklich nur kurz draußen und habe den Müll zur Tonne gebracht, doch als ich wiederkam, hatte das kleine Kind sich schon den ganzen rechten Unterarm mit schwarzer Schminke bemalt. Immerhin hat es sich vorher den Ärmel hochgekrempelt.

Das große Kind aber ist in der Zeit, in der ich in den Müll rausgebracht und anschließend das kleine Kind gebadet habe, schon wieder gewachsen. Wo geht das hin? Wann fängt was an? Und wie soll das erst werden, wenn das Kind zum Beispiel vierzehn Jahre alt ist?

Manchmal übt das großes Kind natürlich, ungefähr vierzehn Jahre alt zu sein, nicht nur mit dem Schminkkasten: Herumnörgeln wegen nix. Dreimal nach oben gehen müssen, weil man drei Dinge vergessen hat, die man sich aber unmöglich auf dem Weg nach oben alle drei merken kann, weshalb man eben dreimal nach oben muss. Kleidungsstücke an jeder beliebigen Stelle der Wohnung ablegen, wobei „ablegen“ viel zu ordentlich klingt. Aber die verknoteten Haufen sind ja auch viel attraktiver für den Hund, der würde sich niemals auf einem ordentlich zusammengelegten Pullover niederlassen.

Einen kleinen Vorgeschmack, was der Frühling der Pubertät sonst noch so bringen kann, bekamen wir jetzt im Herbst. Das Kind lehnt lässig am Gartenmäuerchen und plaudert mit einem nett aussehenden, blonden Jungen. Ich, beim Abendbrot: „Der war nett, oder?“ Das Kind: „Nett, aber nicht zum Heiraten.“ Mir ist fast die Gabel aus der Hand gefallen. Ist es schon so weit?

Neulich bin ich mit einer guten Freundin ins Gespräch gekommen, die hat nämlich erwachsene Kinder, also weitgehend erwachsene, also in dem Alter, in dem sie völlig total ganz selbstständig sind, aber ohne Mami oder Papi erst nach drei Stunden merken, dass sie ihren schönen und auch nicht ganz billigen Mantel an der Garderobe der verrauchten Kneipe im verruchten Viertel haben hängen lassen. Man kennt das. Man war ja auch mal so.

Jedenfalls ging es darum, dass es schon ein seltsames Gefühl sei, wenn die kleinen Windelpuper zügig größer werden, auf einmal größer sind als man selbst und dann auch noch zuhause ausziehen. Am Anfang überlegt man, was man mit dem leeren Zimmer machen kann. Ein Gästezimmer vielleicht?! Oder doch einen Wanddurchbruch und das Zimmer für die Erweiterung der Modelleisenbahn nutzen?! Oder ein Fitnessraum?! An der Garderobe hängt noch ein schäbiger, billiger, verrauchter Mantel, aber das Kind ist groß und hat den doofen alten Eltern einfach den doofen alten Mantel da gelassen.

Ich aber lehne mich jetzt ganz entspannt zurück und freue mich: Mein Kind ist ja noch keine neun Jahre alt! Und bevor es auszieht, haben wir ‒ so Gott will ‒ noch ganz viel miteinander vor!

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