Rainer Kolbe Das Kind

 

256 Der Klub

Wenn man auf dem Dorf lebt, ist man als Vater etliche Stunden pro Woche damit beschäftigt, das Kind mit dem Auto irgendwo hin zu kutschieren, weil die gewählten Freizeitbeschäftigungen ausnahmslos nicht im eigenen Dorf, sondern in den Nachbarorten stattfinden. Fußball in O., Chor in H., Voltigieren in W. „Komm, mein Schatz, wir müssen los!“ Es ist etwas rätselhaft, denn unser Dorf bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Nachmittag hinter sich zu bringen, wenn die Hausaufgaben gemacht sind. Aber nein, es müssen O., H. und W. sein.

Unser Dorf bietet auch eine Vielzahl von gleichaltrigen Jungen und Mädchen, und doch wohnen rund Zweidrittel der Lieblingsfreundinnen des Kindes in den Nachbardörfern. Sie fahren morgens mit dem Bus zur hiesigen Schule und mittags mit dem Bus wieder zurück. Es versteht sich fast von selbst, dass nachmittags keine zeitlich passenden Busse nach O., H. und W. fahren.

Bei der ganzen Autofahrerei ist man froh, wenn ab und an auch etwas im eigenen Dorf geschieht. Das klingt dann so: „Papa!! Wir gehen in den Klub!!“ Das klingt bedenklich. Wie, das Kind geht in einen Klub? Erst acht Jahre alt und schon beim „Clubben“?

Das Kind hat Floh zu Besuch, die allerbeste Freundin, immerhin die wohnt nebenan. Die beiden kichern. Na klar, Mädchen kichern, und diese beiden besonders gerne. Sie stecken die Köpfe zusammen, schauen sich um (haben wir Publikum?), flüstern, tun geheimnisvoll, kichern. „Papa!! Wir gehen in den Klub!!“

Im deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm lesen wir: „club, m. conciliabulum, geschloszne gesellschaft: in diesem hause ist also der club der verschwornen. Göthe 14, 298.“ Und das etymologischen Wörterbuch: „Klub m. ‘Vereinigung von Menschen mit gemeinsamen Interessen sowie Räumlichkeit für deren Zusammenkünfte’. Mitte des 18. Jhs. wird gleichbed. engl. club übernommen und bleibt zunächst auf das Nordd. und Md. beschränkt, während im Südd. Kasino (s. d.) gilt.“

Geschlossene Gesellschaft trifft es natürlich: Zu diesem Klub gehören nämlich nur die beiden Mädchen. Allerdings gebricht es ihnen an geschlossenen Räumlichkeiten. Draußen sein ist aber sowieso „viel cooler“, mediterranes Lebensgefühl und so. Hamburg hat den „Strand Pauli“, Berlin den „BundesPresseStrand“. Unser Dorf will sich nicht lumpen lassen und hat seinen Klub auch draußen! Da aber weit und breit weder Sand noch Strand liegen, findet der Klub der Einfachheit halber an der nächsten Straßenecke statt.

„Papa!! Wir gehen in den Klub!!“ Klar. Ich weiß Bescheid. „Wohin geht ihr?“ „In den Klu-hubb!!“ Ich beschließe, sie ein bisschen zu ärgern. „Ist okay, ich komm gleich nach!!“ „Wehe, Papa!! Das darfst du nicht!! Der Klub ist geheim!!“

Sehr geheim. Gemeint ist wohl eher: sehen und gesehen werden. Der Klub ist von drei Seiten einsehbar, denn er liegt direkt an der Kreuzung zweier Wohnstraßen, gleich neben der Pferdekoppel. Hier hocken die beiden Kinder im Gras, haben die Brennnesseln rundherum platt getrampelt, füttern ihre Spielzeugpferde, kochen ausgedachtes Spielessen auf dem großen Stein, stopfen buntes Zuckerzeug in sich hinein, singen seltsame Lieder. Und kichern.

„Wir gehen in den Klub“, es klingt so unglaublich lässig, so groß, so städtisch, es klingt nach BundesPresseStrand und Strand Pauli. Mindestens. Draußen abhängen ist angesagt, chillen ohne Ende. Wie gut, wenn man sich die Welt noch genau so machen kann, wie man sie braucht.

Nun aber ist die Saison gelaufen. Der Klub ist nicht mehr cool, sondern kühl. Viel zu kühl, um locker und lässig abzuhängen. Die Brennnesseln sind vergangen, der große Stein ist kalt, die Hecke kahl. Ein Wind geht um die Ecke. Die beiden werden sich für die kommenden Monate wohl oder übel geschlossene Räumlichkeiten suchen müssen.

Hauptsache, es bleibt geheim.

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