Rainer Kolbe Das Kind

 

258 Lernen vom Leben

Der Morgen graut noch lange nicht. Der Hund hebt nur kurz die Nase und wälzt sich auf die andere Seite. Das Kind aber öffnet die Tür und tritt hinaus in den fahlen Novembernebel. Es wuchtet den Schulranzen in den Fahrradkorb und sich selbst auf den Sattel, küsst den Vater und radelt los.

Der Vater ruft erst „Tschühüß!!“ und dann „Halt!!“, das Rücklicht ist defekt. Kein Glimmen noch Glühen, von so hochmodernen Dingen wie kräftigem Leuchten samt Standlicht ganz abgesehen. So geht es nicht, viel zu gefährlich in der nebligen Dunkelheit. Also muss das Kind wieder absteigen, das Rad in den Schuppen stellen, den Ranzen erst aus dem Korb und dann auf den Rücken wuchten und sich sputen, um nicht zu spät in die Schule zu kommen.

Der uralte und sowohl nicht völlig dumme als auch kreuzlangweilige Spruch „Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben“ soll hier gar nicht zitiert werden. Am Nachmittag neigte das Kind sein Haupt, blickte mich also schräg von unten an und hauchte „Duhu!? Papa!?“ „Ja, mein liebes Kind?“, fragte ich. „Reparierst du mir mein Fahrradlicht!?“ Ich kenne mein Kind. Das war eine als gehauchte Frage unmissverständliche Aufforderung an mich, umgehend das Fahrradlicht zu reparieren, damit es morgen nicht wieder den ganzen langen Schulweg laufen muss.

So nicht. Immer nur durchs Zimmer tanzen, mit Freundinnen plaudern und Pferde striegeln kann es allein nicht sein. Die Aufgaben im Haushalt, die dem Kind zugemutet werden, halten sich in unregelmäßigen Grenzen. Da wird es ja wohl wenigstens sein Rücklicht selbst reparieren.

Außerdem spielt ein defektes Rücklicht eine nicht unwesentliche Rolle in meinem Leben und im Leben meiner Frau, die damals noch gar nicht meine Frau war. Irgendwann muss das ja mal ein Ende haben mit den defekten Rücklichtern.

An sich ja. Außer natürlich beim ersten Mal, irgendwann muss man das ja erstmal lernen. Heute zum Beispiel. Wir gehen in den Hof. Wo kommt der Strom beim Fahrrad her? Wie viele Kabel führen zu einer Birne? Wie kann man das Rücklicht öffnen? Warum hat das Rücklicht zwei Kabel vom Dynamo und trotzdem auch zwei Batterien? (Na, wissen Sie’s?) Ist die Birne heil? Warum ist ein Kabel angeschlossen und das andere nicht? So kommen wir der Sache näher. Wo schließen wir das Kabel an? Wie schließen wir das Kabel an? Welches Werkzeug benötigen wir dafür? Und wo überhaupt ist die kleine Werkzeugtasche?

Wir beratschlagen und schrauben auseinander, abisolieren und schließen an, prüfen und schrauben gemeinsam wieder zusammen. Klar, dass nach diesem Erfolgserlebnis das Kind unbedingt zum nächstbesten Stall muss, das nächstbeste Pferd zu striegeln.

Ja, das Kind hat heute etwas gelernt. Einfach nur, weil ich keine Lust hatte, alles alleine zu machen. Und sollte sich genau diese Kabel jemals wieder an genau dieser Stelle lösen, so ist das Kind jetzt im Stande, sein Fahrradlicht selbst zu reparieren. Probleme wie Kabelbruch, defektes Birnchen, defekter Dynamo werden von dieser neuen Kenntnis natürlich nicht abgedeckt. Aber immerhin. Ich sehe schon güldene Zeit heranziehen, in denen beide Kinder mit dieser Methode in den Stand versetzt sind, alle Dinge selbst zu regeln, und ich mich mit einem Stapel meiner bevorzugten Zeitschriften mal für etwas längere Zeit auf dem Sofa niederlassen darf.

Ein paar eigene Dinge kann ich an diesem Nachmittag auch noch erledigen, das Kind ist ja im Stall. Irgendwann kommt es dann auf seinem Fahrrad wieder angesaust, hell leuchtet das weiße Licht nach vorne, hell leuchtet das rote Licht nach hinten, das Kind federt vom Sattel, ist immer noch stolz auf das praktisch im völligen Alleingang reparierte Rücklicht und springt fröhlich die Treppe hinauf und ins Haus.

Ich glaube, in der Schule haben sie noch nie ein Fahrrad repariert. Warum eigentlich nicht? Man lernt eine Menge dabei und fröhlich macht es auch!

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