Rainer Kolbe Das Kind

 

259 Tote Zeit

Der Titel mag etwas irritieren. Nein, es ist nicht die Zeit des Advents gemeint, in der wir abends wie tot ins Bett fallen, weil wir den besinnlichen Spagat zwischen Gemeindebasar, Schulweihnachtsaufführung und Adventsfenster einerseits sowie einigen unwesentlichen alltäglichen Dinge wie arbeiten und einkaufen andererseits nur so gerade eben schaffen.

Nein, mit toter Zeit ist die Zeit zwischen Hin- und Rückfahrt gemeint, die Zeit des Wartens auf das Kind. Ist es einen Nachmittag bei einer Freundin im Nachbardorf eingeladen, fahre ich es hin und hole es wieder ab. Die Zeit dazwischen ist meine. Ist der Fahrtweg aber länger und das Kind nur ein Stündchen benötigt, dann lohnt es sich natürlich nicht, wieder nach Hause zu fahren. Das ist dann die tote Zeit.

Beispielsweise dienstags, wenn das große Kind beim Kinderchor ist. Denn es fügte sich, dass in der eigenen Gemeinde kein Kinderchor angeboten wird, sehr wohl aber in der nächstgrößeren kleinen Stadt. Der helle Gesang der kleinen Schar dauert eine Dreiviertelstunde. Hinfahren, tote Zeit, zurückfahren.

Natürlich wird diese Zeit anderweitig genutzt und mit Leben gefüllt. So kann man ein paar kleine Einkäufe erledigen oder sich ‒ viel besser ‒ in den nächstbesten Schlosspark verfügen, auf eine Bank setzen und ein gutes Buch lesen. In einer Dreiviertelstunde kommt man ja schon ein gutes Stück voran. Jedenfalls im Frühling und im Sommer. Jetzt allerdings herrschen nasse vier Grad, da locken Park nicht noch Bank. Immerhin kann man sich um das Buch kümmern, genauer: um die Bücher.

Vor allem um die, die man noch gar nicht hat. Denn in der kleinen Stadt gibt es nicht nur einen Kinderchor und einen Schlosspark, sondern auch ein Antiquariat. Heute geht ja alles über das Internet, und fast hätte man schon vergessen, was das ist, ein Antiquariat: Ein Ort zum Stöbern und Suchen und Finden und zum Erwerb älterer, mehr oder weniger gebrauchter Bücher.

Und also dachte ich: Die tote Zeit lässt sich leidlich nutzen, in einer Dreiviertelstunde lässt sich trefflich stöbern. Ich plante also in meinem geistigen Kalender den Besuch des Antiquariats ein, und ich gestehe: Ich vorfreute mich sehr.

Dann ist der Dienstag da ‒ aber das große Kind ist krank geworden! Nichts ist also mit Chor und gut genutzter toter Zeit. Nun gut, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und so der Herr will, ist nächste Woche wieder ein Dienstag dabei.

Und genauso ist es auch. die Hausaufgaben sind erledigt, das Kind findet seine Chormappe, allerdings erscheint die Kinderaufpasserin nicht, das kleine Kind zu behüten! Deshalb muss ich es mitnehmen in die kleine Stadt, um während der toten Zeit mit ihm durch die nassen vier Grad zu spazieren ‒ der Besuch eines Antiquariats mit einem dreijährigen Kind verspricht keine entspannte Sache zu sein, nicht für mich und nicht für den Antiquar.

Der Herr aber fügt es, dass ein dritter Dienstag naht, die Hausaufgaben sind erledigt, das Kind findet seine Chormappe, die Kinderaufpasserin für das kleine Kind ist pünktlich zur Stelle, da klingelt das Telefon. Der Kantor sagt ab, er selbst ist krank.

Okeee, denke ich bei mir, dreimal Anlauf, dreimal Vorfreude, beim nächsten Mal muss es klappen. Da naht der vierte Dienstag ‒ das Kind findet seine Chormappe, die Kinderaufpasserin für das kleine Kind ist pünktlich zur Stelle, das Telefon schweigt, wir fahren los, kommen an, das Kind hüpft über die große Treppe in die große Kirche der kleinen Stadt. Erleichtert atme ich auf. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen! Eine Dreiviertelstunde tote Zeit gut genutzt zum Stöbern und Suchen und Finden und zum Erwerb alter Schätze.

Ich biege um drei Ecken, da ist schon die Gasse, da blinkt schon das alte Schild über dem Eingang im neblig fahlen Licht. Ich strecke die Hand aus, ergreife die Klinke, erblicke das Schild: „Heute geschlossen!“

Tote Zeit.

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