Rainer Kolbe Das Kind

 

262 Meine Schneeflocke

Auf den Adventsflohmarkt der Schule folgt traditionell die Weihnachtsfeier der Schule. Das klingt eher lapidar und ist es doch gar nicht.

Noch drei Tage. Das Kind tanzt durch den Flur. Gottlob, das tut es alle Tage, ein fröhliches Kind: Heute tanzt es den Schneeflockentanz, des es mit der Klasse aufführen wird auf der Schulweihnachtsfeier in unserer Kirche.

Noch zwei Tage. Generalprobe in der Kirche. Es wird festgestellt, dass die Bühne in der Kirche deutlich kleiner ist als im Musikraum der Schule, in dem alle bisherigen Proben statt fanden. Vielleicht hätte man das vorher schon mal feststellen können... So fürchte ich Schlimmes, sehe mein Kind am Rand der Bühne straucheln, vom Rand der Bühne stürzen, lang hinschlagen und was der väterlichen Besorgnisse mehr sind.

Noch ein Tag. Es ist Abend, die Kinder sind im Bett und schlafen. Eine Tür klappt. Da steht mein großes Kind, „Ich kann nicht einschlafen, ich muss immer an morgen denken!!“ Das Kind hat Lampenfieber! Ich versuche zu trösten, geleite es wieder zu seinem Bett, es darf noch ein paar Minuten lesen, vielleicht hilft das.

Es ist später Abend. Die Kinder sind ... da klappt eine Tür. „Mir ist schlecht. Ich muss spucken!!“ Nur das jetzt nicht, eine fiese Magen-Darm-Infektion für die ganze Familie! Wenige Tage vor Weihnachten! Wenige Stunden vor der Aufführung! Das darf nicht sein! Doch Magen und Kind beruhigen sich wieder. So viel Aufregung! Irgendwann schlafen alle, keine Tür klappt.

Kein Tag mehr: heute! Der große Abend naht. Das Kind trabt zur Kirche, Einlass für die Eltern ist erst eine halbe Stunde vor Beginn. Eine halbe Stunde vor Beginn betrete ich die Kirche: Sie ist bald bis auf den letzten Platz besetzt! Wie kann das sein? Der Küster schüttelt den Kopf, er könne nichts dafür, das sei eine Veranstaltung der Schule... Doch ich habe Glück, in der dritten Reihe ist noch ein einzelner Platz, und da ich allein gekommen bin, ganz ohne mein ganz kleines Kind, reicht das für mich ja.

„In der dritten Reihe“ heißt nicht „weit vorne“, sondern meint die dritte Reihe hinter den Schulkindern. Sieben Schulklassen besetzten locker das vordere Drittel des Kirchenschiffs. Kinder von sieben Schulklassen brauchen nicht nur viel Platz, sondern müssen sich auch unterhalten. Noch eine gute halbe Stunde bis zum Beginn...

Doch irgendwann ist es überstanden, es wird leiser. Jedenfalls sind die Kinder leise, denn jetzt beginnt ihre Weihnachtsfeier. Eine Klasse nach der anderen tritt auf die Bühne und präsentiert Einstudiertes, Erprobtes, Geliebtes und Gesungenes. Vom obligatorischen „In der Weihnachtsbäckerei“ bis zum Rap, vom Rollenspiel bis zum Sternentanz und vom „Stern über Bethlehem“ bis zum Schneeflockentanz.

Zwischendurch wird gemeinsam gesungen, und man meint einen gewissen kulturellen Verfall zu ahnen, wenn man sieht, wie viele Eltern zum Programmblatt greifen müssen, um auch nur die erste Strophe von „Alle Jahre wieder“ mitmurmeln zu können. Öfter mal in die Kirche gehen...

Beim Schneeflockentanz ist mein Kind dabei! Die Kinder tanzen und hüpfen in weißen Gewändern über die Bühne, mit Glitter und Flitter zu sanfter bis dramatischer Musik ‒ je nach Schneefall eben. Die Klasse hat in liebevoller Mühe eine ziemlich gute Choreographie einstudiert. Am Ende gibt es großen Applaus für den Schneeflockentanz ‒ und ich bin ganz schön stolz auf mein Kind!

Der Tag danach. Auf dem Boden vor der Waschküche liegt ein kleiner Haufen ehemals weißer Wäsche, weißer Gewänder, weißer Strümpfe. „Kannst du dich noch an gestern erinnern?“, frage ich mein Kind liebevoll spöttisch. „Papa!! Es war so schön!! Ich möchte den Schneeflockentanz jeden Tag aufführen!!“

Es kann Weihnachten werden. Muss noch nicht mal schneien zum Fest, die schönste Schneeflocke habe ich ja zuhause.

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